Ein Sandwich zum Wärmen

Quartierslösung auf Basis von Geothermie als Pilotprojekt

„Wir sind eine Kurstadt. Kuren heißt gesunden: der Mensch und die Umwelt. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung, die Wärmebereitstellung mit Klima schonenden und effizienten Konzepten zu gewährleisten. Eine der innovativsten Formen der Wärmeversorgung ist die Kalte Nahwärme. Wir sind stolz darauf, dass unsere Kurstadt hier eine Vorreiterrolle einnimmt.“ Für Peter Drausnigg, Stadtwerke-Chef in Bad Nauheim, ist es deshalb ein Muss, im Neubaugebiet Bad Nauheim Süd „diese nachhaltige, klimafreundliche Art der Wärmeversorgung zu etablieren“.

Vor gut zwei Jahren startete sein Energieversorgungsunternehmen mit dem ersten Bauabschnitt des 160.000 m2 großen Areals. Nach Abschluss des dritten Bauabschnitts im Jahr 2023 werden dort 400 Wohneinheiten in Ein-, Zwei- und Mehrfamilienhäusern stehen, teils in Form von Wohneigentum, teils als Mietobjekte von Immobiliengesellschaften. Die Planer errechneten für Bad Nauheim Süd eine Heizlast von 3 MW. Für Nahwärme in Verbindung mit einer Sole/Wasser- oder Wasser/Wasser-Wärmepumpe beträgt der Primärenergiefaktor 0,46. Dieser Wert erlaubt einen hohen KfW-Effizienzhaus-Standard mit beachtlichen Tilgungszuschüssen für die Hausfinanzierung.

Über- statt nebeneinander

Die 0,46 ergeben sich aus dem Primärenergiefaktor 1,8 für elektrischen Strom, der seit 2016 gilt, und dem Primärenergiefaktor 0,0 für den Wasserstrom. Das AGFW-Arbeitsblatt FW 309 Teil 1 „Energetische Bewertung von Fernwärme und Fernkälte – Primärenergiefaktoren“ sieht einheitlich die 0,0 für Nahwärme aus den Quellen Geothermie und Solarthermie vor. Da Wasser/Wasserbeziehungsweise Sole/Wasser-Wärmepumpen bei einem COP von 4,0 für vier Teile Wärme nur ein Teil Strom verbrauchen, dürfen sie sich einen Primärenergiefaktor von 0,45 zugute halten, von marginalen systemischen Abweichungen abgesehen.

Den Ausgangspunkt des kalten Nahwärmenetzes bildet eine Grundstücksfläche von rund 11.000 m2, einige Kilometer von Bad Nauheim Süd entfernt. Dort vergrub der Kollektoranbieter Steinhäuser aus Bischberg-Trosdorf nahe dem fränkischen Bamberg in 1 m Tiefe eine Art Sandwich in Form von zwei übereinander liegenden Ebenen seiner patentierten „Boden-Klima-Tauscher“. Die 1,5 m dicke Erdschicht dazwischen macht das Sandwich. Das Grundwasser strömt 1 m unter der Kollektoreinheit. Die durchschnittliche Bodentemperatur dürfte sich bei etwa 10 °C bewegen. Der Masterplan stützt sich unter anderem auf eine Machbarkeitsstudie der Build.Ing Consultans, Nürnberg, ab. Sie umfasst eine energetische Quartierssimulation und eine dynamische Simulation des hydraulischen Netzes. Die Ergiebigkeit des Energiefelds hatte die Energie Plus Concept GmbH, ebenfalls Nürnberg, analysiert.

Forschungsgeld aus Berlin

Deren Geschäftsführer Volker Stockinger koordiniert in seiner Funktion als Professor für Energiegerechtes Bauen und Gebäudetechnik an der TH Nürnberg auch das breit angelegte Forschungsprojekt „KNW-Opt“ (Kalte Nahwärme mit oberflächennahesten Großflächenkollektor in Bad Nauheim), das das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) mit zirka 4 Mio. Euro fördert. An dem Verbundvorhaben sind neben den Stadtwerken Bad Nauheim die TH Nürnberg, die Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, die Technische Universität Dresden sowie die Enisyst GmbH und die Consolinno Energy GmbH beteiligt. Die beiden kommerziellen Unternehmen verantworten das Energiemanagementsystem.

Die wissenschaftlichen Arbeiten konzentrieren sich auf die bodenkundlichen Effekte des Sandwich-Kollektors nebst dem angeschlossenen Rohrleitungssystem. Darüber hinaus sind die Beteiligten dabei, ein engmaschiges Netz an Messstellen zu ziehen, um das Gesamtsystem weiter zu optimieren. Die Daten aus den verschiedenen Sensoren (u.a. Grundwasser, Boden, Sole, Raumtemperaturen) laufen in der Energiezentrale zusammen und werden dort in einer Cloud gebündelt, auf die die Studienbearbeiter in Echtzeit zugreifen können. Das Projektvolumen aller sechs Partner beträgt rund sechs Mio. Euro für eine Laufzeit bis 2023.

Redundant und regelbar

In Bad Nauheim hat das einzelne Tauscherelement eine Abmessung von 2 x 7 m. In jeder der beiden Ebenen liegen horizontal 352 dieser Module. Zur horizontalen Anordnung gibt es eine Alternative: Es genügt, den Boden mit einer entsprechenden Baumaschine zu schlitzen und die Module senkrecht hineinzustellen. Allerdings muss da die Mineralogie mitmachen. Bei sandigen Böden gestaltet sich das sehr schwierig, weil die schmalen Schächte von 3 m Tiefe dazu neigen, schneller zusammenzufallen als die Rohrregister eingebracht sind.

Steinhäuser fertigt die Rohrregister nicht nur in der genannten Dimension. Bei einer Breite von 2 m gibt es sie in Längen von 5 bis 12 m. Der Durchmesser der PE-Rohre reicht von 20 mm bis 400 mm für die Anbindung an das Bebauungsgebiet. Diese Strecke von 13 km fungiert ebenfalls als Absorber. Beide Sektoren, das doppelte Kollektorfeld und die Anbindung, teilen sich die Deckung der Heizlast von insgesamt 3 MW mit jeweils rund 50 Prozent. Diese Zweiteilung ist auch hydraulisch von Nutzen. Eine Ventilsteuerung lässt zu, bei reduziertem Bedarf nur die Anbindung zu durchströmen. Die Module sind im Tichelmann-Verfahren an den Vor- und Rücklauf angekoppelt, sodass im gesamten Rohrnetz keine Druckdifferenzen auftreten. Jeweils eine bestimmte Anzahl der Wärmeübertrager zirkuliert über eine abgeteufte Verteilerkammer. Drei Förderpumpen saugen aus diesen Schächten den Vorlauf. Jede einzelne Pumpe ist in der Lage, den Druckverlust im Gesamtsystem zu überwinden. Damit besteht im Störungsfall Redundanz. Vorrangig dient die Aufteilung indes der Regelung, da bei niedriger Wärmenachfrage in den Sommermonaten nur eine der drei Pumpen laufen muss.

Vereisung erwünscht

Eine interessante hydraulische Besonderheit besteht in der getrennten individuellen Bemessung der Durchflüsse in der unteren und der oberen Modulebene. „In den heißen Sommermonaten haben die Wohnungen einen Kühlbedarf“, so Steinhäuser-Chef Harry Steinhäuser, „den decken wir passiv. Dazu bedarf es eines großen Kältespeichers. Im Winter fahren wir deshalb die Geologie im Umfeld der unteren Ebene bis in den Eisbereich hinein, bis -3 oder -4 °C. In den Sommermonaten tauen wir den Boden mit der Zimmerwärme über den Solekreis wieder auf. So sieht jedenfalls der Plan aus.“ Ob er aufgeht, soll „KNW-Opt“ erkunden.

Die BAFA-Gelder machen für den Bauherrn die Nahwärme besonders kosteneffizient. Punkt eins, sie halten die Kosten für die Erschließung der Energiequelle eines Wärmepumpensystems für den einzelnen Betreiber in Grenzen, von denen einer Luft-Wärmepumpe abgesehen. Selbst zur Übergabestation im Haus zahlt die Bundesregierung zu. Im Übrigen gestattet der Bebauungsplan Luft-Wärmepumpen ohnehin nicht. Sämtliche Heizungstechnik muss im jeweiligen Haus untergebracht sein, um Reklamationen zu Maschinengeräuschen weitgehend auszuschließen. Punkt zwei, dem Investor geht die KfW-Unterstützung für sein Effizienzhaus, hier „KfW 55“, nicht verloren. Beide Punkte entlasten mithin seine persönliche Wärmewende von zu hohen Ausgaben.

180 Wärmepumpen

Das sagt denn auch Stadtwerke-Projektleiter Sebastian Böck: „Neben den positiven Aspekten für die Umwelt profitiert der Bauherr unmittelbar von vielen vorteilhaften Begleiterscheinungen.“ Er bezieht diese Aussage natürlich auch auf den Erbauer Stadtwerke: Sein Dienstherr offeriert den Bewohnern von Bad Nauheim Süd ein „Rundum-Sorglos-Paket“ mit Lieferung, Montage und Wartung der Wärmepumpen.

Diese stammen vom Hersteller Waterkotte: 180 Aggregate für 400 Wohneinheiten. In Bad Nauheim ist das Basisprodukt die „Ai1“-Reihe („Ai1“ steht für „All-in-One“). Die Leistung reicht von 5 bis 29 kW. Den COP-Wert gibt Waterkotte mit bis zu 5,0 an. In den Mehrfamilienhäusern in Bad Nauheim werden die Stadtwerke in erster Linie Geräte aus der Typenserie „Industrial Line“ mit Leistungen bis 56 kW aufstellen. Alle Maschinen gestatten die passive Naturkühlung.

Weiterführende Informationen: https://www.stadtwerke-bad-nauheim.de/

Freitag, 30.07.2021