Ende des Jahres sollen die ersten Möbelwagen vorfahren: Auf einem 20 ha großen Gelände im Bamberger Osten.
Nachhaltigkeits-Quartier „Lagarde“ in Bamberg bald bezugsreif
Ende des Jahres sollen die ersten Möbelwagen vorfahren: Auf einem 20 ha großen Gelände im Bamberger Osten.
Dort entsteht ein neues Stadtviertel mit bezahlbarem Wohnraum für etwa 2.400 Menschen, Flächen für Gewerbe, Dienstleistungen, Kultur und soziale Einrichtungen. Und mit einem nachhaltigen Wärmekonzept. Die Stadtwerke Bamberg kümmern sich darum, dass eines der größten innerstädtischen Infrastrukturprojekte Deutschlands umweltfreundlich und zukunftsfähig versorgt wird.
Bis ins Jahr 2014 war die Lagarde-Kaserne Teil des 450 ha großen US-Army-Standorts in Bamberg und Heimat für tausende amerikanische Soldaten und ihre Familien. Dann zogen Truppen und Entourage ab. Schon zwei, drei Jahre vor der Schließung hatte die Stadt indes begonnen, Pläne für die Konversion der Fläche zu zeichnen.
Das Aus als Garnisonsstadt in 2014 hatten ihr die US-amerikanischen Streitkräfte frühzeitig mitgeteilt und damit Planungszeit eingeräumt. Mit der Bundesanstalt für Immobilienangelegenheiten (BImA) als Eigentümerin des Geländes bestand Einigkeit über den Ankauf und die damit verknüpften Bedingungen, etwa frei von Altlasten. Die BImA machte sich ans Aufräumen, der Denkmalschutz markierte die zu erhaltenden Objekte und 2017 wechselte die riesige Liegenschaft in das Eigentum der oberfränkischen Metropole.
Im Rahmen der Umbauarbeiten erhielten die STWB Stadtwerke Bamberg GmbH den Auftrag, ein Strom- und Wärmekonzept auf Quartiersebene mit Alt- und Neubauten, Wohnhäusern, Bürokomplexen, Kulturstätten sowie Dienst- und Gewerbeflächen zu entwerfen. Konkret umfasst die Bebauung 70 Prozent Neubau und 30 Prozent Bestand.
Die Nutzung teilt sich auf in 59 Prozent Wohnen, 34 Prozent Gewerbe und Büro, vier Prozent Handel und drei Prozent Kultur. Die Baustandards reichen von „KfW 40“ bis „EnEV 2016“, plus Altbau, das Temperaturniveau von Nieder- bis Hochtemperatur. Leistungsmäßig muss die Technik in der Lage sein, jährlich etwa 10 GWh für die Heizung und Brauchwarmwasserbereitung, 1 GWh Kühlung und 8 GWh Elektrizität (ohne Wärmepumpen) zur Verfügung zu stellen. Die Energie soll möglichst aus Vor-Ort-Quellen stammen.
Die Auflagen führten zu einem Schema, das nach Aussage der Verantwortlichen bis dato Einmaligkeitsstatus besitzt und heute so aussieht: Mitten in der Stadt stammen 70 Prozent der benötigten Wärme tatsächlich aus Ressourcen auf dem Gelände.
▪ Oberflächennahe Erdwärme: Flächenkollektoren. ▪ Erdwärme aus unteren Schichten: 55 Erdsonden, die 120 m tief gehen. ▪ Wärme aus dem Haushalts-Abwasser. ▪ Sonnenstrom von den Dächern der Gebäude treiben die Wärmepumpen an. ▪ Tageszeitliche Produktionsschwankungen werden durch ein intelligentes Speichermanagement und ein Blockheizkraftwerk (BHKW) ausgeglichen. ▪ Überschüssige Wärme des Abwassers wird im Sommer zur Regeneration des Erdreichs verwendet, damit es im Winter wieder genutzt werden kann. ▪ Batterien speichern überschüssigen Strom.
Auf dem 19. Forum Wärmepumpe in Berlin im November 2021 ging Stefan Loskarn, Leiter Quartiersentwicklung bei den Stadtwerken Bamberg, auf Details des Energieplans ein. Wärmepumpen in den energieeffizienten Neubauten erhalten von einem kalten Nahwärmenetz als Lieferant Anergie für den Kälte- und Wärmebedarf.
Als Wärmequellen fungieren ein Erdsondenfeld, Abwärme aus Gewerbebetrieben, ein Wärmeübertrager im kommunalen Abwasserkanal und Erdkollektoren: 11.000 m² liegen unter den Gebäuden in Beton eingebettet, 9.000 m² in der Freifläche. Zusammengenommen dürften die Schlangen eines der größten innerstädtischen Geothermiefelder Deutschlands sein.
Natürlich achteten die Planer darauf, dass die Horizontalsonden unterhalb der Sohlplatte der Neubauten nicht als Kühlflächen wirken, indem sie auch den Bauwerken Wärme entziehen – Isolierplatten entkoppeln sie vom Fundamentbeton. Darüber hinaus weist ihnen das Konzept Speicherfunktion zu. Im Sommer etwa beladen die Abwasserkanal-Wärmeübertrager den Puffer und regenerieren so auch dessen Untergrund.
Die Energiequellen münden in die Energiezentrale ein, die die Wärmeströme auf die Abnehmer aufteilt. Stromseitig docken die Verbraucher an der PV-Anlage auf den Dächern der Immobilien an. Die generiert jährlich etwa 1,6 MWh Solarstrom.
Die Stadtwerke Bamberg hatten die Realisierbarkeit des Konzepts in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer IEE, dem Nürnberger Ingenieurbüro BUILD.ING Consultants + Innovators und der Otto-Friedrich-Universität Bamberg angedacht und hierbei neben der Energieausbeute auch den Platzbedarf, Kohlendioxid- und Lärmemissionen sowie die Wirtschaftlichkeit der einzelnen Wärmeerzeugungsmethoden in den Fokus genommen.
Wie erwartet, sprachen die Bedingungen für kalte Nahwärme. Die wesentlichen Vorteile: Erstens, keine Transportverluste. Durch eine unisolierte Ringleitung gelangt das erwärmte Trägermedium zu den Abnehmern, den Gebäu-den, und belädt sich auf der Strecke noch mit Erdwärme, statt Temperatur zu verlieren. Zweitens ermöglicht kalte Nahwärme, Anergie, also Abwärme mit niedrigem Temperaturniveau, zu Exergie (zu hochtemperaturiger Heizenergie) zu veredeln. Drittens schließt das Netz die Option ein, die Häuser im Sommer ökologisch und wirtschaftlich zu kühlen (passive Kühlung) und mit der aufgenommenen Wärme das Erdsondenfeld zu regenerieren. Aufgrund der fehlenden bis geringen Wärmeverluste gestattet viertens das Verfahren große Leitungsdistanzen. Die angeschlossenen dezentralen Wärmepumpen erhöhen fünftens Komfort und Effizienz, indem sie auf die individuellen Anforderungen und Bedürfnisse der einzelnen Verbraucher eingehen, was sich bei herkömmlichen Nahwärmenetzen schwierig gestaltet. Und sechstens gibt es reichlich Geld vom Staat bzw. von der BAFA: Die Bundesförderung für effiziente Wärmenetze (Wärmenetzsysteme 4.0) schießt einen erheblichen Betrag zu – aufgeteilt auf vier Module –, wenn die Energieversorgung überwiegend auf erneuerbarer Energie und Abwärme beruht. Modul I teilfinanziert die Machbarkeitsstudie, Modul II die Realisierung des Netzes. Modul III beteiligt sich an Maßnahmen zur Kundeninformation im Versorgungsgebiet zur Erhöhung der Anschlussquote. Modul IV übernimmt die Ausgaben von Hochschulen, Forschungs- und Wissenschaftseinrichtungen, die im Rahmen einer nicht-wirtschaftlichen Tätigkeit in Kooperation mit einem Antragsteller für Modul II anfallen. Die Zuwendungen zu den einzelnen Modulen sind an Höchstgrenzen gebunden.
Natürlich finden die BAFA-Subventionen für „Lagarde“ das Wohlwollen der Stadt Bamberg als Bauherr. Auf dem Forum Wärmepumpe legte Stadtwerke-Mann Stefan Loskarn aber auch den Finger in die Wunde der Mittelvergabe: zu administrativ, teilweise praxisfern und lückenhaft. „Das ganze Prozedere hat uns ein ganzes Jahr Verzögerung gekostet. Unter anderem auch deshalb, weil das BAFA im Laufe der Antragstellung zum Teil die Bestimmungen geändert hat, so dass wir wieder umplanen mussten.“
Auf der anderen Seite räumt der Verordnungsgeber den Eigentümern in spe einen umwelttechnischen Bonus ein, der sich jedoch nicht an die Physik hält. Die kalte Nahwärme für die Neubauten in „Lagarde“ stammt aus dem Abwasser und aus der Geothermie, die Hochtemperatur für die Neubauten aus der Müllverbrennung in einem Müllheizkraftwerk. Beiden Netzen, das kalte wie das warme, weist das Gebäudeenergiegesetz (GEG) einen nahezu klimaneutralen Primärenergiefaktor (PEF) zu, was sich zugunsten der Investitionen in die Bausubstanz auszahlt. Physikalisch gesehen, entspricht ein GEG-konformer PEF um null aus einem Heizkraftwerk natürlich nicht den Fakten. Er ist politisch gewollt, quasi mit der Begründung, dass es sich um Abwärme aus der Stromerzeugung und um zu entsorgenden Abfall einer Wohlstandsgesellschaft handelt. Diese Betrachtung führt zu einem Primärenergiefaktor von konkret 0,14 für das Hochtemperaturnetz auf dem ehemaligen Kasernengelände, während rund 0,3 für die kalte Nahwärme mit Wärmepumpe gelten. Diese Bewertung steht im erheblichen Widerspruch zu den realen Verhältnissen. Umweltorganisationen drängen deshalb auf eine Änderung im GEG. In Bezug auf die Bauausführungen benachteiligt dieser Widerspruch indes nicht das Niedertemperaturnetz, da ein Primärenergiefaktor von 0,3 keine Verschärfung der Anforderungen gegenüber 0,14 bedeutet.
Den Aufbau des kalten und warmen Netzes zeigen die Abbildungen 4 und 5. Der Wärmebedarf für den gesamten Campus beträgt etwa 10 GWh/a. In Abb. 4 sind die Energieflüsse für einen Teil des Quartiers namens „Lagarde-West“ mit einem Wärmebedarf von rund 5 GWh/a schematisiert. Das Hochtemperaturnetz für den teils denk-malgeschützten Bestand speist sich aus der Müllverbrennung. Im Winter fahren es die Betreiber auf 110 bis 115 °C hoch, im Sommer auf 90 °C. Die Übergabestationen in den Gebäuden spannen dieses Niveau auf eine Spreizung 70/50 °C herunter. Dem Heizkraftwerk steht noch ein Hochtemperaturspeicher zur Seite. Den belädt das stromgeführte BHKW des eigenen elektrischen Betriebsnetzes.
Das kalte Netz als Energiequelle für die Wärmepumpen in den Neubauten temperiert sich ausschließlich mit Geothermie und Abwasserwärme. Zum Wärmeentzug aus der Kanalisation dienen Wärmeübertragermatten aus Edel-stahl auf dem Boden der Kanalrohre. Der Tauscher mit einer Fläche von 750 m2 und einer thermischen Leistung von 1 MW erstreckt sich über eine Länge von 250 m und ist damit der größte in ganz Bayern. Die Stadtwerke rechnen mit mehr als 2 GWh jährlich aus dieser Quelle. Über eine rund 1 km lange Anbindung führt der Vorlauf zur Energiezentrale des Lagarde-Campus und dort in das kalte Netz. Die 1 MW beziehen sich auf einen Durchsatz von 110 l/s und eine Temperaturabsenkung von lediglich 0,9 K. Die biologische Klärung ist damit nicht gefährdet, zumal der 4,5 km lange Ablauf von der Energiezentrale zum Klärwerk als riesiger Erdwärmeübertrager fungiert, sodass sich der Abfluss temperaturbezogen erholt. Dazu trägt ebenfalls die weitere Abwassereinleitung auf diesem Abschnitt bei. Schlussendlich behalten noch zwei Sensoren die Entwärmung im Blick und schalten bei Überschreiten eines Grenzwerts die Abwasserwärmenutzung aus.
Die Geothermie schwingt über das Jahr gesehen von etwa -4 °C bis +22 °C: Die Regelung fährt Teile des Sondenfelds bis in den Minusbereich hinein, um über ausreichend Kühlkapazität zu verfügen. Das Konzept mit dem kalten und dem warmen Netz zieht unterschiedliche Gestehungskosten nach sich. Laut Projektleiter Stefan Loskarn schlägt sich das aber nicht in ungleichen Wärmepreisen nieder. „Wir versorgen die Abnehmer in »Lagarde« im Contracting, inklusive Wärmepumpe. Wir bieten einen einzigen Tarif an, gleichgültig, ob der Kunde kalte Nahwärme oder Fernwärme bezieht.“
Die Contracting-Lösung sei eigentlich die Voraussetzung für die Akzeptanz. Nach Erfahrung der Stadtwerke sagt die Mehrheit der Kunden zwar ja zu umweltschonenden Heiztechnologien, aber schlicht nein zu spürbaren Mehrkosten, wie sie Wärmepumpen-Installationen in Verbindung mit Quellenerschließung nach sich ziehen. In einem Wärmeliefervertrag über eine Laufzeit von zehn, 15 oder 20 Jahren seien die Mehrkosten für die nachhaltige Technik dagegen moderat und akzeptabel. Losgelöst von dieser psychologischen Komponente zwingen darüber hinaus die Förderrichtlinien des Programms „Wärmenetze 4.0“ zum Contracting, indem sie verlangen: „Kalte Nahwärmesysteme mit netzseitigen Vorlauftemperaturen von unter 20 °C können im Rahmen des Förderprogramms förderfähig sein, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: 1. Die Wärmeerzeuger (dezentrale Wärmepumpen) befinden sich im Eigen-tum des Wärmenetzbetreibers […].“ Sie, die Wärmepumpen, kamen im Frühjahr 2022 in die Neubauten und in etwa zeitgleich starteten die Brunnenbauer mit dem Abteufen der 55 Vertikalsonden. Die Energiezentrale wird in Kürze betriebsbereit sein.
Weiterführende Informationen: https://www.stadtwerke-bamberg.de/unternehmen/beteiligungen/lagarde
Dienstag, 09.08.2022