Nein, es gilt nicht „100 Meter tiefe Vertikalsonden oder Eisspeicher auf Basis einer betonierten, Wasser gefüllten Zisterne war gestern, Erdeisspeicher auf Basis mehrerer übereinandergeschichteter Lagen von Flächenkollektoren aus unisolierten Rohren ist heute und morgen“. Nein, nach wie vor ist die Sonde, was die Wärmelieferung angeht, für sich gesehen immer noch ergiebiger. Umstände respektive die Aufgaben müssen die Variante Erdeisspeicher schon bedingen. Etwa das Wasserrecht, das keine Tiefensonden am Ort zulässt oder der Mangel an Fläche oder der Bedarf an Wärme im Winter und Kühle im Sommer. Oder, etwa in Übergangszeiten, der zeitgleiche Bedarf an Wärme und Kälte, indem man die Bodentemperatur künstlich so regelt, dass beide Anwendungen damit (wirtschaftlich) auskömmlich leben können. Wie und ob das machbar ist, will das Forschungsprojekt „Erdeisspeicher II“ unter anderem erkunden.
Der Praxistest findet im Neubaugebiet Wichelkoppeln im norddeutschen Schleswig statt. Nebenbei, dass das Gelände des Kleingartenvereins Schleswig zu Bauland mutierte, ist insofern eine Anomalie, als üblicherweise in Deutschland für die Mangelware Schrebergarten Interessenten beinahe Schlange stehen. In der Wikingerstadt an der Förde durfte sich dagegen die Natur ungehindert ausbreiten, weil sich keine Pächter mehr fanden. Einige Kleingartenlauben verschwanden fast gänzlich unter Rankgewächs und Sträuchern. Der Verein gab deshalb das Grundstück an die Stadt zurück. Die errichtet dort jetzt insbesondere für junge Familien mit Kindern 60 Einfamilien-, Doppel- und Reihenhäuser und eine Feuerwache. Für die Energieversorgung haben sich fünf Partner unter der Koordination der Schleswiger Stadtwerke GmbH zusammengefunden: Neben dem EVU sind die drei Hochschulen TU Dresden, FAU Erlangen-Nürnberg und RWTH Aachen mit an Bord sowie das Beratungsunternehmen Energie Plus Concept GmbH. Das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi) fördert das Vorhaben. Details zum Prinzip erfuhr das HeizungsJournal auf einer Informationsreise für Journalisten zum Ort der Aktivität, zu der der Bundesverband Wärmepumpe (BWP) im Mai dieses Jahres nach der „Corona-Lockerung“ eingeladen hatte.
Der Ausgangspunkt: Wenn aus irgendwelchen Gründen Tiefensonden ausscheiden, kam und kommt für geothermische Wärmepumpen für Städte und stadtnahe Regionen Erdwärme nur dann infrage, wenn ausreichend Fläche für einen Flachkollektor, in Verbindung mit einer kalten Nahwärmeleitung, zur Verfügung steht. Aber ist eine Großfläche die erste Voraussetzung? Kann man nicht mehrere Rohrlagen übereinanderstapeln und so ein massiges Erdvolumen mit kleiner Grundfläche entwärmen? Natürlich mit Abzügen, wegen des thermischen Kurzschlusses. Um dann, wie gehabt, den Ertrag in ein kaltes Nahwärmenetz einzuspeisen und innenstädtische Gebäude damit zu versorgen. Diesem Lösungsansatz geht die Forschungsarbeit „Erdeisspeicher II“ – oder auch nur „ErdEis II“ – bei den Schleswiger Stadtwerken nach. Und wie gerade aufgezählt sowohl mit der Möglichkeit der Wärme- als auch der Kältelieferung. Die Schleswiger Stadtwerke sind führend in kalter Nahwärme in Deutschland. Der Versorger hat bereits einige derartige Netze erfolgreich umgesetzt.
Theorie aus „ErdEis I“
Die vier Lagen blankes Rohr in nackter Erde erstrecken sich in der Vertikalen über fünf Meter. Die oberste Ebene verlegten die Beteiligten 1,50 m unter Bodenoberkante und die folgenden Stockwerke mit je 1 m Abstand zueinander. Die Fläche von 22 x 22 m für das erste Feld verjüngt sich leicht trichterförmig nach unten, das heißt, die Lagen drei und vier umfassen weniger Rohrmeter als die Lagen eins und zwei. Die obere Ebene einerseits und die drei unteren Ebenen lassen sich jeweils separat ansteuern. Zur Raumkühlung etwa kann so im Sommer die oberste warme Zone umgangen werden, um die Vorlauftemperatur zu reduzieren.
Die theoretische Vorerkundung hatte das Projekt „Erdeisspeicher I“ der Hochschule München zum Inhalt: Geothermie aus Tiefen bis etwa 5 m im großen Stil in Agglomerationen zu verwerten. 2019 schloss es ab. Dem Ergebnisbericht zu Folge favorisiert der damalige Forschungsleiter Prof. Dr.-Ing. Volker Stockinger den Erdeisspeicher überall dort, wo wenig Fläche zur Verfügung steht und idealerweise gleichzeitig Wärme- und Kältebedarfe vorherrschen: „Ab 30 bis 40 Wohneinheiten, etwa am Stadtrand oder in der Nähe von unverbaubaren Grünflächen wie Parks, sind kalte Nahwärmenetze eine geeignete klimafreundliche und relativ preiswerte Lösung.“
Die vergrabenen Stockwerke verwerten das unterschiedliche jahreszeitliche Angebot. Wenn die Oberfläche im Winter zufriert, heißt das nicht, dass die tieferen Erdschichten mit den Rohrschlangen ebenfalls vereisen. Meist ist im Boden bei 80 cm Schluss mit dem Frost. Umgekehrt kann sich im Sommer die Oberfläche erwärmen, während die unteren Bereiche noch kalt bleiben und so helfen, Wohnungen im Sommer zu klimatisieren. Somit liefert der Erdeisspeicher immer zur richtigen Zeit das, was gebraucht wird: Wärme im Winter und Kälte im Sommer. Die künstliche Regeneration mit PVT-Kollektoren (PV = Photovoltaik; T = Solarthermie) und das Zweikreissystem räumen zudem die Option ein, den natürlichen Speicher gestuft zu beladen, eventuell 15 °C im obersten Stockwerk und 8 bis 10 °C im Parterre. Gestapelte Wärme, wie im Warmwasser-Zonen- oder -Schichtenspeicher.
Senke für Abwärme
Im Frühling kommt es zu einem Phasenwechsel. Das Eis verflüssigt sich und die Schmelzenergie belädt die Erdmasse. Die Protagonisten sprechen denn auch vom PCM-Effekt: Wasser als Phase-Change-Material (= Phasenwechsel-Material). Die Mineralogie gestattet des Weiteren, bei Realisierung eines entsprechenden Schemas, sie mit Abwärme aus der Kühlung in Supermärkten oder aus Industrieanlagen zu regenerieren. Oder das System greift zur thermischen Nachfüllung des Bodens gezielt auf die Kilokalorien aus Solarkollektoren zurück, wie es bei „ErdEis II“ in Schleswig via PVT-Modulen passieren wird.
„Wir sind gespannt, wie der konkrete Kältebedarf aussieht und wie weit wir die Lagen deshalb im Winter abkühlen müssen“, so Björn Ohlsen, Projektingenieur bei der Energie Plus Concept GmbH (EPC), Nürnberg, gegenüber dem HeizungsJournal. Das Dienstleistungsunternehmen ist im Wesentlichen in der Beratung im Bereich effiziente und nachhaltige Energiekonzepte für Siedlungen, Quartiere und Liegenschaften tätig. In „ErdEis II“ ist EPC insoweit eingebunden, als Geschäftsführer Volker Stockinger den Vorversuch „ErdEis I“ leitete und sein Beratungsbüro für „ErdEis II“ mit der Messtechnik beauftragt ist. Dazu werden in Schleswig die Abnehmer beobachtet, Temperatur- und Feuchtefühler im Boden verlegt und anderes.
Das Bebauungsgebiet hängt an insgesamt vier Bodenkollektoren sowie der PVT-Anlage auf dem Dach der Feuerwache. Die vier Wärmeübertragersysteme im Erdreich verteilen sich auf zwei einlagige übliche Flachkollektoren und die beiden separaten vierlagigen Erdeisspeicher unter der Wiese und dem Regenrückhaltebecken. „Der Vorteil der Trichter aus vier Lagen ist eben, dass ich auf einer begrenzten Fläche mehr Wärme herausbekomme. Natürlich beeinflussen sich die einzelnen Etagen durch Kurzschluss gegenseitig, aber der Ertrag ist wesentlich höher gegenüber einer einlagigen Ausführung. Von doppellagigen Ausführungen liegen uns Ergebnisse vor. Die bestätigen das. Die Vierer-Ausführung soll uns zeigen, ob es noch platzsparendere Möglichkeiten der Nutzung oberflächennahster Geothermie gibt. Bisher konzentrieren sich Großkollektoranlagen auf den ländlichen Raum, auf Neubaugebiete mit ausreichend Acker oder einer Freifläche in der Umgebung. Je mehr man in die Städte hineinkommt, desto geringer ist das Flächenangebot. Mit welcher Konfiguration können wir, wenn wir nicht in die Tiefe dürfen, das Optimum an Wärme entnehmen? Das wollen wir wissen.“
Hinzu komme: „Wegen des Klimawandels mit zunehmenden sommerlichen Temperaturen wollen immer mehr Eigentümer ihr Haus auch kühlen können. Der Kühlbedarf wird in den nächsten Jahren noch deutlich steigen. Internationale Studien sprechen von einer Verdreißigfachung in den nächsten 50 Jahren weltweit. Deutschland wird es nicht so extrem treffen wie andere Länder, aber der generelle Wunsch ist da. Das Mehrlagensystem lässt prinzipiell zu, das Angebot dem Bedarf anzupassen. Wir können Kälte in den Sommer retten, wenn wir den Kollektor als Zweikreis- oder Mehrkreissystem aufbauen. Weil man mit den oberen Schichten die natürliche Regeneration durch die Sonne unten etwas abschirmen kann und die Zone in der Tiefe quasi als Kühlpotential stabilisiert. Das wollen wir ausprobieren. Es ist ein Forschungsvorhaben, wir werden ein bisschen »rumspielen«. Am Anfang der Heizperiode will man natürlich trotzdem wieder ein möglichst warmes Erdreich. Deshalb ist das eine ganz spannende Sache mit der Steuerung und Regelung. Wie hat man das auszutarieren, um wirtschaftlich optimal zu bleiben.“
Der Wunsch nach Kühle
Die PVT-Module auf der Feuerwache liefern sowohl Strom als auch Wärme. Das Hydraulikkonzept sieht vor, je nach Jahreszeit, mit der Solarenergie die kalte Nahwärme nachzuheizen beziehungsweise die Bodenkollektoren zu regenerieren. „Kommt im Sommer viel Wärme vom Dach, werden wir sie zielgerichtet in bestimmte Kollektoren beziehungsweise in die ausgewählte Schicht einspeisen. Wir werden einzelne Ebenen für den Winterbetrieb bedienen, ohne das momentane Kühlpotential anderer Felder und Ebenen anzugreifen. Es ist ein faszinierendes Vorhaben. Ein Erdeisspeicher wurde noch nie gebaut. Natürlich fuhren wir schon erste Simulationen. Die sehen vielversprechend aus. Aber das beeinflusst sich alles so gegenseitig, dass man die realen Verhältnisse kaum mit Simulationen wirklich 1:1 abbilden kann. Wir werden es einfach mal ausprobieren und sehen dann, ob wir zu viel Kälte oder zu viel Wärme haben und wie wir für eine optimale Nutzung sommers wie winters steuern müssen. In jedem Fall werden wir im Spätwinter in den unteren Lagen auf die Vereisung gehen“, erklärt Ohlsen.
Die Betonung liegt auf „den unteren Lagen“. Deshalb, „weil wir aufpassen müssen – und deswegen auch intensive Simulationen –, dass nicht die künstliche Eisschicht von unten mit der natürlichen Eisschicht von oben, mit dem Bodenfrost, zusammenwächst. In diesem Fall käme es zu Bodenhebungen. Wir müssen genau messen, wie sich das mit der Vereisung verhält. Ebenfalls, ob man den Boden wirklich schön gleichmäßig eingefroren bekommt oder ob sich doch an einzelnen Stellen deutlich tiefere Temperaturen ergeben. Es wäre nichts gewonnen, wenn die Netztemperatur zu weit absinkt, dann geht beim Heizen die Effizienz verloren. Die Solaranlage sollte in jedem Fall als intelligente Regenerationsquelle einspringen und natürlich leistungsfähig genug sein, um das Speicherpotential noch besser ausnutzen zu können. Auch das ist das Interessante an dem Projekt, dass wir mit den PVT-Modulen die Chance haben, zu testen, wie sich die zwei Systeme am besten ergänzen.“
Rangierbahnhof für Wärme und Kälte
Regelungstechnisch sieht das Schema einige findige Varianten vor. Um nur einen Punkt herauszugreifen: Für den Kühlbetrieb im Sommer wird die Hydraulik quellenseitig die oberste Lage nicht ansteuern, sondern auf die niedrigeren Erdreichtemperaturen in der Umgebung der unteren Rohrarchitektur zugreifen. Das schmälert aber den COP zur Trinkwassererwärmung via Wärmepumpe. Um trotzdem ohne merkbare Verluste gleichzeitig Brauchwarmwasser erzeugen und passiv kühlen zu können, temperiert die Wärmepumpe Teile des Warmwassers mit der Abwärme aus dem Gebäude. Das macht sie, indem sie sich an dem Wärmeübertrager bedient, der die Wärmepumpe vom Quellennetz abkoppelt. Die Raumwärme verzweigt sich hier sowohl zum nachhaltigen Trinkwarmwasserbereiter als auch zum Erdkollektor und damit zur Regeneration des Bodens. Wenn die Abwärme aus dem Gebäude nicht ausreicht, muss zusätzliche Quellenwärme das Defizit decken. „Das kalte Nahwärmenetz fungiert als eine Art Rangierbahnhof für Wärme und Kälte“, beschreibt Volker Stockinger diesen Fall.
Die von Glykol durchflossenen Rohre liegen blank im Erdreich. Von den zwei Einfachfeldern und den zwei Erdeisspeichern geht es zur gemeinsamen Energiezentrale und von der über eine mehrere Kilometer lange Nahwärme-Vorlaufleitung zum Verteiler auf die Häuser im Bebauungsgebiet. Die Leitungen bleiben unisoliert, um Erdwärme aufzunehmen. Sie fungieren als Kollektor. Die mittlere Temperatur aus den Eisspeichern und den Flachkollektoren dürfte mehrheitlich unter der Bodentemperatur liegen. Laut Simulation könnte der Energiegewinn auf der Transportstrecke rund 30 Prozent des Gesamtentzugs ausmachen. Mangels Schutzrohr besteht im Havariefall eine Umweltbelastung des Bodens mit dem Frostschutzmittel. Deshalb sind im Vorfeld die möglichen Auswirkungen von der FAU Erlangen-Nürnberg untersucht worden. Dazu wurden mehrere Würfel von 1 m3 Fassungsvermögen mit Erde gefüllt und kontrolliert, wie sich das Wasser/Glykol-Gemisch im Erdreich verteilt und ob Schadstoffe nach einer Woche zurückbleiben beziehungswese in welchem Zeitraum sie sich abbauen.
Monitoring beantragt
Das Forschungsprojekt „ErdEis II“ läuft bis Februar 2022. Die Beteiligten hoffen, dass sich ein „ErdEis III“ mit dem Monitoring der Ausführung anschließt, um Dimensionierungswerte für ähnliche Vorhaben zu generieren. Die Idee mit dem vierlagigen Rohrgerüst ist übrigens einer zweilagigen Installation in Bad Nauheim für 400 Wohnungen entsprungen. Die hat ebenfalls Volker Stockinger entworfen, auch schon als Zweikreissystem, das oben und unten separat be- und entladen kann (vgl. „Ein Sandwich zum Wärmen – Quartierslösung auf Basis von Geothermie als Pilotprojekt“, HeizungsJournal 6/2021, Juni, S. 62 ff.). Allerdings mit geringeren Effekten gegenüber Schleswig. Stockinger leitete aus den Ergebnissen in Hessen eine vierlagige Modifikation als effizienter und wirtschaftlich vertretbar ab.