Alle Macht geht vom Volk aus. Das wählt aus seinen Reihen die Vertreter für das Parlament, von dem es erwartet, dass es im politischen Raum Entscheidungen trifft, die ihm eine lebenswerte Umwelt sichern. An den Schalthebeln sitzen allerdings derzeit zu wenig Weichensteller mit Weitblick und Stärke. Auf dem digitalen Forum Wärmepumpe 2020 des Bundesverbands Wärmepumpe (BWP) im November formulierte es Rainer Baake so: „Deutschland hat zwar beschlossen, bis 2050 klimaneutral zu werden, aber die Bundesregierung hat bisher keinen Plan vorgelegt. Es herrscht Orientierungslosigkeit, sprich, es wird in alle möglichen Richtungen marschiert, ohne dass wir schauen, ob die Dinge zusammenpassen.“ Einen Hauptgrund für die Orientierungslosigkeit sieht er in dem massiven Lobbyismus, der an den Berliner Beschlüssen entscheidend mitwirke: „Es laufen eine ganze Reihe von Interessensvertretern durchs Land, die versuchen, unter dem Stichwort »Klimaneutralität« Strategien zu propagieren, die im Endergebnis darauf hinauslaufen, die bestehenden Technologien beizubehalten und lediglich den Brennstoff zu ersetzen. Das kann nicht funktionieren.“
Das Sechsfache
Mit „bestehenden Technologien“ meint Energie- und Umweltexperte Baake unter anderem die bestehenden Strukturen, wie die Zentralität. Und damit die Abhängigkeit von Großversorgern, „die sich als Klimaschützer feiern lassen, wenn sie in einem Kohlekraftwerk die Blöcke alt gegen neu tauschen.“ Im Wärmebereich habe die Gasindustrie vorgeschlagen, Wasserstoff bis an den Hausanschluss zu liefern. Und das wolle sie auch noch subventioniert bekommen. „Wer öffentliche Subventionen verlangt, muss natürlich die Frage nach Kosten und Effizienz einer gebotenen Technologie beantworten. So sieht die Effizienz im Wärmebereich aus: Wenn Sie eine Kilowattstunde Strom vom Windrad nehmen und daraus Wasserstoff herstellen, kommen 50 Prozent am Wärmeerzeuger an. Wenn Sie denselben Strom in eine Wärmepumpe stecken, werden aus einer Kilowattstunde Strom drei Kilowattstunden Wärme.“ Das Sechsfache an Effizienz. „Beim Wasserstoff-Auto wären das, was ankommt, gerade mal 19 Prozent.“
Nun ist Politik immer das Aushandeln eines tragfähigen Kompromisses zwischen allen Interessensgruppen. Rainer Baake kennt sich im politischen Geschäft aus. Unter Jürgen Trittin war der Grünen-Politiker sieben Jahre Staatssekretär im Umweltministerium. Später, als der Energiebereich mit Sigmar Gabriel ins Wirtschaftsressort wechselte, hatte er drei Jahre lang die gleiche Position im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Das verließ er 2018, weil er, nach eigenen Angaben, die vertraglich fixierte Klimapolitik der Großen Koalition nicht mittragen wollte. Zwischendurch war er der zentrale Kopf bei Gründung und Aufbau der seit 2012 bestehenden Denkfabrik Agora Energiewende, die wissenschaftlich fundierte und politisch umsetzbare Wege zu den beschlossenen nationalen Klimazielen erarbeitet. Aktuell leitet er als Direktor die seit 2020 tätige Stiftung Denkfabrik Klimaneutralität in Berlin. Die entwickelt unter anderem mit US-amerikanischem Geld Sektor übergreifende Strategien für ein klimagerechtes Deutschland: Träger ist die ebenfalls erst 2020 „von wohlhabenden Amerikanern“ (Baake) gegründete kalifornische Stiftung „Climate Imperative Foundation“ (www.energyinnovation.org).
Die Institution sieht sich als Ergänzung zu Agora: „Aktuell liegt unser Fokus darauf, bis Sommer 2021 eine Roadmap mit konkreten Instrumenten vorzulegen, wie Deutschland klimaneutral werden kann. Unsere Arbeit ist sektorübergreifend, sodass wir zum Teil Bereiche beleuchten, mit denen die Agora sich bislang nicht beschäftigt hat, wie etwa der Landwirtschaft. Grundsätzlich können Sie es so sehen: Wir bringen zusätzliche Kompetenz und Geld zur Finanzierung von wissenschaftlichen Studien mit. Dabei stimmen wir uns eng mit der Agora ab, um Doppelarbeit zu vermeiden und kooperieren in manchen Bereichen zusammen, wie bei der Studie »Klimaneutrales Deutschland 2050«“, so die Antwort auf die Frage, wie sich denn die beiden Baake-Gründungen voneinander unterscheiden.
Die zwei Kernfragen
Der gelernte Volkswirt eröffnete mit seinem Thema „Klimapolitik und Energiewende im Wärmemarkt“ die Reihe der Fachvorträge des 18. Forums Wärmepumpe. Im Wesentlichen griff er auf die erwähnte Studie zurück, die die Stiftung Denkfabrik Klimaneutralität bei Agora Energiewende, dem Öko-Institut und dem Wuppertal-Institut in Auftrag gegeben hatte. Er teilte sich den Ergebnisbericht mit seinem Nachredner Matthias Deutsch von Agora Energiewende, indem er sich auf die Kernaussagen konzentrierte, während der Agora-Wissenschaftler in einige Details ging. Klimaneutralität erfordert – und das ist keine neue Erkenntnis – den Aufbau eines komplett auf erneuerbaren Energien basierenden Stromsystems. Das heißt, auch Straßenverkehr und Wärmeversorgung müssen weitgehend auf Strom basierte Lösungen umsteigen. Wie kann es gelingen, ein Deutschland ohne Kohle, Erdöl und Erdgas zu schaffen? Und was ist dafür in den kommenden zehn Jahren nötig? Das sind also die zwei Kernfragen der Studie.
„Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Analyse ist, dass wir das Zwischenziel für 2030 deutlich anheben müssen, weil die bisherigen 55 Prozent Treibhausgasminderung nicht auf dem Pfad zur Klimaneutralität 2050 liegen. Wir müssen von 55 auf 65 Prozent anheben. Das ist im Übrigen wahrscheinlich genau derselbe Wert, der als Größenanteil aus einem angehobenen europäischen Ziel zu erwarten ist.“ Man diskutiere ja gerade EU-weit die Anhebung gegenüber 1990 von 40 Prozent auf 55 Prozent. Da Deutschland der größte Emittent mit höheren Pro-Kopf-Emissionen als der Durchschnitt ist, „werden wir einen überproportionalen Beitrag leisten müssen und der wird bei 65 Prozent liegen.“
China macht mit
Wir, die Bundesrepublik, mit einem Anteil von gerade mal zwei Prozent an den globalen CO!SUB(2)SUB!-Emissionen, können das Klima doch nicht retten. Warum sollten wir verzichten, viel Geld ausgeben und uns anstrengen müssen, wenn der Rest der Welt nicht genauso handelt?
Baake nahm Skeptikern dieses Typs am Nutzen der Umweltschutzkosten und -bemühungen gleich zu Beginn seines Statements den Wind aus den Segeln: „2019 hat die Europäische Union beschlossen, dass Europa als erster Kontinent bis 2050 klimaneutral werden soll. In diesem Jahr, 2020, ist China gefolgt. Ausgerechnet China hat sich zur Klimaneutralität bis 2060 bekannt. Und zwar mit der klaren Ansage, dass die chinesischen Emissionen noch vor 2030 den Höhepunkt erreichen sollen. In Amerika sagt der neu gewählte Präsident, dass der Stromsektor in den USA bis 2035 klimaneutral sein soll. Und generell eine gesamte Klimaneutralität bis 2050 angestrebt wird. Mit China, USA und Europa sind bereits mehr als die Hälfte der globalen Treibhausemissionen erfasst. Aber das ist noch nicht alles. Auch Japan hat die Klimaneutralität bis 2050 erklärt, ebenfalls weitere Länder wie Südkorea und Kanada.“ Die chinesischen Ambitionen zur Luftreinhaltung bekräftigte auf dem digitalen UN-Klimagipfel am 12. Dezember 2020, gut 14 Tage später, noch einmal Chinas Staatspräsident Xi Jinping: „China hält seine Zusagen immer ein. Wir werden entschlossene Schritte gehen, um noch vor 2060 die Klimaneutralität zu schaffen und vor 2030 den Höhepunkt beim Treibhausgas-Ausstoß zu überschreiten – nicht erst um 2030, wie in Paris angekündigt.“ Bis 2030 werde China seine CO!SUB(2)SUB!-Emissionen pro Bruttoinlandsprodukt-Einheit um mehr als 65 Prozent im Vergleich zu 2005 mindern. Man werde in Wind- und Solarfarmen investieren.
Halbierung des Primärenergieverbrauchs
Der Gipfel zementierte die Absicht der Unterzeichner-Länder des Vertrags von Paris 2015, alles zu tun, um die Erderwärmung auf eine Erhöhung von maximal 1,5 °C zu begrenzen. Baake leitet aus den weltweiten Bemühungen ab: „Das heißt, wir werden in den nächsten Jahren einen besonderen Wettbewerb erleben: Wer hat die beste Strategie zur Klimaneutralität?“ Aus Sicht der Gutachter und aus Sicht Baakes muss sich der Weg zur Klimaneutralität an vier Grundsätzen orientieren.
„Erster Punkt: Wir müssen Fehlinvestitionen, wie etwa in neue fossile Kraftwerke, vermeiden.
Zweiter Punkt: Wir müssen die Effizienzen in den Vordergrund rücken und den Primärenergieverbrauch in den nächsten drei Jahrzehnten halbieren.
Dritter Punkt: Wir müssen Strom aus erneuerbaren Energien in anderen Sektoren zur Dekarbonisierung einsetzen, also zum Beispiel Wärmepumpen im Wärmemarkt oder batterieelektrische Autos für die Mobilität.
Vierter Punkt: In den Bereichen, und nur in jenen Bereichen, wo wir keine Alternative haben, wo wir fossile Energien nicht ersetzen können durch Energieeffizienz oder durch den direkten Einsatz von Strom, werden Wasserstoff und aus Wasserstoff hergestellte Brennstoffe eine wesentliche Rolle spielen. Etwa in der Stahlindustrie.“
Es geht auch ohne Sanierung
Was heißen diese Gebote für die nächsten zehn Jahre? Im Zentrum der Studie „Klimaneutrales Deutsch-land“ steht eine Grafik zum Weg von heute bis zur Klimaneutralität im Jahr 2050, mit dem Zwischenziel von 65 Prozent im Jahr 2030. „Sie sehen einen vollständigen Ausstieg aus der Kohleverstromung. Die Kohle darf nicht mehr in der Klimabelastung im Jahr 2030 auftauchen. Wir müssen bis dahin die erneuerbaren Energien massiv ausbauen, Wind an Land auf 80 GW, Offshore 25 GW und PV 150 GW.“
„Im Wärmesektor werden wir fossil betriebene Heizungen im Umfang von ungefähr 6 Mio. Anlagen durch Wärmepumpen ersetzen müssen. Das ist möglich. Die neue Erkenntnis ist ja die, dass die energetische Sanierung nicht mehr der limitierende Faktor für den Einsatz von Wärmepumpen ist. So hat man früher argumentiert. Und wir wissen alle, die Sanierung ist ein sehr mühsames Geschäft. Mittlerweile sind wir aber zu einer anderen Erkenntnis gekommen. Das Fraunhofer-Institut hat den neuesten Stand der Technik sehr genau unter die Lupe genommen und sich in Bestandsgebäuden mit und ohne energetische Sanierung die Performance des Heizens mit Wärmepumpen angeschaut. Klare Aussage: Wir brauchen eben nicht die energetische Sanierung, bevor wir eine Heizung auf der Basis der Wärmepumpentechnologie dort einbauen.“
Enddatum für Fossile
Diese Feststellung eröffne der Politik die Möglichkeit, „zumindest für die Ein- und Zweifamilienhäuser ein Enddatum für den Neueinbau von fossil betriebenen Heizungen zu bestimmen. Ob dieses Enddatum 2023, 2024 oder 2025 ist, muss sorgfältig abgewogen werden. Auf der einen Seite muss man natürlich den Beteiligten genügend Vorlaufzeit geben. Auf der anderen Seite will man natürlich auch nicht, dass jetzt noch alle möglichen Eigentümer und Investoren fossile Energie für ihre Heizung nehmen.“
Die Studie geht in ihrem Hauptszenario davon aus, dass sich in Deutschland die Zahl der betriebenen Wärmepumpen von 1,0 Millionen im Jahr 2020, über rund 6 Millionen im Jahr 2030, auf über 14 Millionen Anlagen im Jahr 2050 erhöht. Matthias Deutsch: „Die eingebauten Wärmepumpen werden im Zeitverlauf aufgrund von technischen Weiterentwicklungen und Optimierungen zusehends effizienter. Die mittlere Jahresarbeitszahl (JAZ) im Segment Wohngebäude steigt von rund 3 im Jahr 2018 auf 3,9 im Jahr 2050. Bei Neubauten liegen dann die JAZ im Mittel bei annähernd 5,5. Ein zunehmender Anteil der elektrischen Wärmepumpen wird flexibel gesteuert und der Betrieb dem Angebot an fluktuierender Stromerzeugung aus Windenergie und Photovoltaik angepasst. Als Speicher dienen dabei einerseits Warmwasserspeicher, wie zum Beispiel Pufferspeicher, andererseits wird auch die Masse der Gebäudehüllen als kurzzeitiger thermischer Speicher genutzt.“ Und der Fortschritt lasse den Wärmepumpen-Einsatz auch in mäßig gedämmten Objekten zu, „sodass mittel- und längerfristig auch bei Vorlauftemperaturen von 50 bis 55 °C Jahresarbeitszahlen von 3,5 oder sogar höher erzielt werden können, wenn die Anlagen fachgerecht eingebaut werden“.
Schlussbetrachtung der Studie
„Die Weichen für Klimaneutralität 2050 und minus 65 Prozent Treibhausgase bis 2030 werden in der nächsten Legislaturperiode gestellt. Das Regierungsprogramm nach der Bundestagswahl 2021 ist von zentraler Bedeutung. Kluge Instrumente und Politik modernisieren Wirtschaft und Gesellschaft Deutschlands in Richtung Resilienz und Zukunftsfähigkeit. Gleichzeitig gestaltet gute Politik den anstehenden Strukturwandel so, dass er inklusiv ist und alle mitnimmt.“ Dass die Sorge um die Resilienz – um die Tragfähigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft – unbegründet sei, belege das bisher Geleistete. Nämlich die Minderung der Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 um bereits 31 Prozent bis 2018. Rainer Baake: „Damit liegen wir doch bereits auf dem Pfad. Wir müssen jetzt nur noch beschleunigen.“