Warum hängt ein erfolgreicher Fernwärmeausbau Ihrer Meinung nach derart stark von der noch ausstehenden „Bundesförderung effiziente Wärmenetze“ ab?
Ganz einfach: Zur Wärmewende gehört auch eine Fernwärmewende. In der Vergangenheit basierten ja auch Fernwärmesysteme oft auf großen Kohle- oder Gaskraftwerken, also auf fossilen Energiequellen, und viele tun das noch heute. Wenn Fernwärmenetze aber künftig Energie aus dezentral organisierten Wärmequellen verteilen sollen, dann gilt für sie dasselbe wie für Stromnetze, die elektrische Energie aus unterschiedlichsten Energiequellen verteilen sollen: Sie müssen modernisiert bzw. schon in Planung und Grundausbau an die Dezentralisierung der Erzeugerlandschaft angepasst werden. Insbesondere die Einbindung von Abwärme und regenerativen Energiequellen, deren Lieferqualität starken Schwankungen unterliegt, ist hier wie beim Strom-netz eine Herausforderung. Um diese Herausforderung zu bewältigen, sind nicht unerhebliche Investitionen in die Wärmenetzinfrastruktur erforderlich. Wenn die Versorger diese Investitionen alleine stemmen müssen, dann wird der Fernwärmeausbau zu langsam vorangehen und mit Blick auf unsere Klimaziele zu lange dauern.
In welche Richtung müssen die Modernisierungsinvestitionen der Wärmenetzbetreiber nach Ihrer Auffassung zielen? Was muss sich ändern?
Die Betreiber müssen Wege finden, die Netztemperatur zu senken. Denn die Nutzung von Abwärme oder Wärme aus regenerativen Energiequellen ist nicht mit Vorlauftemperaturen von 120 oder 130 °C zu vereinbaren. Das Energieniveau, das für solche Heißwassersysteme nötig ist, lässt sich mit diesen Wärmequellen einfach nicht erreichen. Werden im Vorlauf nur noch 60 °C oder weniger eingespeist, kann ein breiter Mix an Energie-quellen angezapft und das vorhandene Versorgungspotential optimal genutzt werden. Eine solche Absenkung sollte aber selbst dort angestrebt werden, wo noch fossile Kraftwerke im Einsatz sind. Denn bei Niedertemperaturnetzen wird weniger Energie zur Versorgung benötigt bzw. es können mit identischem Energieaufwand mehr Kundenanschlüsse versorgt werden. Zudem verringert sich der Umfang transportbedingter Wärmeverluste. All das wirkt sich schon beim Einsatz fossiler Energieträger äußerst positiv auf die Klimabilanz aus.
Kann so ein Niedertemperatur-Wärmenetz überhaupt einen hinreichenden Wohnkomfort und nicht zuletzt eine hygienisch einwandfreie Brauchwarmwasserversorgung gewährleisten, Stichwort Legionellenproblematik?
Ja, das ist beides kein Problem. Moderne Gebäudeisolierungen und mehrfachverglaste Fenster machen es heute generell möglich, Wohn- und Zweckbauten auch mit niedrigen Temperaturen effektiv zu beheizen. Und was die Legionellenproblematik beim Trinkwasser angeht, so wird oft übersehen, dass die Zirkulation mindestens genauso wichtig ist wie die Temperatur. Werden die Systeme hier sachgerecht konfiguriert, kommt es nirgendwo zur Legionellenbildung – auch nicht bei der Versorgung über ein Niedertemperaturnetz.
Was muss auf technologischer Ebene passieren, damit ein solches Niedertemperatur-Wärmenetz möglich wird?
Das Zauberwort heißt hier „End-to-End“-Optimierung. Und damit die gelingt, müssen sowohl der Versorger als auch der Kunde mitspielen. Auf der Versorgerseite muss der Netzbetrieb so exakt wie möglich an den tatsächlichen Bedarf angepasst werden, von der Erzeugung bis zur Wärmelieferung an die Übergabestation. Und auf der Kundenseite muss der Wärmebedarf reduziert werden, indem nicht nur die Gebäudeisolierung, sondern auch die Heizanlage optimiert wird, die Übergabestation inklusive.
Bleiben wir zunächst bei der Versorgerseite: Wie kommt man zu einer möglichst präzisen Anpassung der Wärmeversorgung an den tatsächlichen Bedarf?
Zunächst einmal muss ich den Bedarf überhaupt kennen, ich brauche also Informationen über die Charakteristik aller angeschlossenen Gebäude und das jeweilige Nutzerverhalten, zudem benötige ich Wetterdaten. Aufgrund der Netzträgheit muss ich stets vorausschauend agieren, also mit Bedarfsprognosen arbeiten, die anhand aktueller Wettervorhersagen sowie auf Basis teils historischer, teils aktueller Daten über Gebäude und Nutzer errechnet werden. Und dann muss ich sowohl die bedarfsorientierte Wärmeerzeugung als auch die Verteilung auf die einzelnen Teilnehmer hochpräzise steuern können. Dazu muss ich die Schwankungen in der dezentralen Einspeisung von Abwärme und erneuerbaren Energien korrekt erfassen bzw. möglichst sicher prognostizieren, ich muss die Thermohydraulik meines Netzes flexibel anpassen und ich muss den kompletten Netzbetrieb permanent und lückenlos überwachen. Ohne Digitalisierung geht hier gar nichts. Wir brauchen intelligente Wärmenetze, die von der Leitstelle des Versorgers bis zur Ventilkomponente im großen Stil durchautomatisiert sind. Denn die Komplexität des Zusammenspiels aller Netzbestandteile ist von niemandem mehr aus eigener Kraft zu bewältigen.