Interview mit Martin Reich, Technischer Referent bei inVENTer, zur "Lüftungsnorm".
Chancen und Grenzen der neuen DIN 1946-6
Donnerstag, 10.09.2020
Die heutige Bauweise und die energetische Sanierung lassen Gebäude immer luftdichter werden. Das hat zur Folge, dass "normale" Lüftungsgewohnheiten über das Fenster und durch natürliche Infiltration oft nicht mehr ausreichen, um den notwendigen Luftwechsel zum Schutz des Gebäudes nutzerunabhängig sicherzustellen und außerdem eine gesunde Raumluft zu gewährleisten.
Mit der neuen DIN 1946-6 ("Raumlufttechnik – Teil 6: Lüftung von Wohnungen – Allgemeine Anforderungen, Anforderungen an die Auslegung, Ausführung, Inbetriebnahme und Übergabe sowie Instandhaltung") lässt sich feststellen, ob ein zusätzliches Lüftungssystem notwendig ist. Mit Ausgabedatum 2019-12 wurde die Version von 2009 überarbeitet und angepasst. Sie gilt für freie und ventilatorgestützte Lüftung von Wohnungen und gleichartig genutzten Wohneinheiten. Die aktuellen Änderungen liegen im Wesentlichen in der Struktur, der Berechnung der Infiltration und der Einführung des neuen Kapitels "Kombinierte Lüftungssysteme".
Martin Reich, Technischer Referent beim Spezialisten für dezentrale Lüftungssysteme inVENTer, bezieht im Gespräch mit dem HeizungsJournal Stellung zu den Auswirkungen der neuen DIN 1946-6 auf die Lüftungsplanung.
Herr Reich, eine generelle Frage zum Einstieg: Wann genau ist ein Lüftungskonzept notwendig oder empfohlen?
Grundsätzlich sollte für jeden Neubau ein Lüftungskonzept erstellt werden. Bei der energetischen Sanierung nur dann, wenn lüftungstechnisch relevante Änderungen vorgenommen werden. Das kann beispielsweise der Tausch von mindestens einem Drittel der Fenster einer Nutzungseinheit sein oder sobald mehr als ein Drittel der Dachfläche (Dachgeschosswohnung Mehrfamilienhaus oder im Einfamilienhaus) abgedichtet werden. Auch für die Nachrüstung von Lüftungssystemen in einzelnen Bereichen einer Nutzungseinheit sollte ein Lüftungskonzept erarbeitet werden.
Welche wesentlichen Neuerungen bringt die überarbeitete DIN 1946-6 für die Lüftung?
In erster Linie ist der Aufbau der DIN 1946-6 übersichtlicher geworden. Die Strukturierung in separate Kapitel erleichtert die Orientierung bei der Erstellung des Lüftungskonzeptes und vor allem bei der Auslegung der lüftungstechnischen Maßnahme. Die verschiedenen Anforderungen der einzelnen Lüftungssysteme sind, aus meiner Sicht, jetzt klarer beschrieben: Kapitel 4 behandelt die Vorgehensweise und Randbedingungen zum Lüftungskonzept. Kapitel 5 soll bei der Auswahl eines geeigneten Lüftungssystems helfen. Im Kapitel 6 werden dann die Außenluftvolumenströme für die Nutzungseinheit festgelegt. Und damit die Mindestanforderungen, unabhängig vom gewählten Lüftungssystem.
Je nach gewähltem Lüftungssystem geht es dann weiter im Kapitel 7, wenn eine freie Lüftung gewählt werden soll, Kapitel 8 für ventilatorgestützte Lüftung oder Kapitel 9 in Verbindung mit 7 und/oder 8, wenn eine Kombination von verschiedenen Systemen geplant werden soll. Durch diese Neustrukturierung lassen sich Lüftungskonzepte schneller und einfacher erstellen.
Welche Änderungen betreffen konkret die Lüftungsplanung und insbesondere die dezentralen Lüftungssysteme?
Die Berechnung der Infiltration wurde deutlich vereinfacht. Unter vorgegebenen Randbedingungen wird diese nun mit einem einfachen Faktor, anhand des Luftvolumens und der Dichtigkeit ("n50-Wert"), berechnet. Für die Auslegung von Zu-/Abluftsystemen wird die Infiltration nicht mehr berücksichtigt. Dadurch entfallen zumindest für diese Systeme weitere systemspezifische Berechnungsschritte. Eine weitere Neuerung ist die Anpassung der Außenluftvolumenströme für eine Nutzungseinheit. Im Vergleich liegen diese jetzt etwas unter denen der Ausgabe von 2009. Für die Auslegung der Lüftungsanlagen wurde damals der notwendige Volumenstrom anhand der Fläche der Nutzungseinheit oder durch die Summe der Ablufträume bestimmt – je nachdem, welcher Wert höher war.
Das Resultat daraus war, dass für kleine Wohnungen teilweise zu hohe und energetisch nicht sinnvolle Abluftvolumenströme erforderlich waren, um DIN-gerecht zu lüften. Die neue DIN 1946-6 wirkt diesem Problem entgegen, da die Abluftvolumenströme auf das 1,2-fache der Flächenanforderung begrenzt wurden.
Bei dezentralen Lüftungssystemen, welche als Einzelraum-Lüftungsgeräte definiert sind (auch alternierende Systeme), werden die erforderlichen Volumenströme ausschließlich über die "Flächenformel" bestimmt. Die Auslegung der Ablufträume erfolgt dann nach Tabelle 16, welche die notwendigen raumweisen Abluftvolumenströme vorgibt. Die raumübergreifende Wirkung von Einzelraum-Lüftungsgeräten wird in der neuen DIN 1946-6 durch die Aussage anerkannt, dass es energetisch sinnvoll sein kann, mit dem Lüftungsgerät mehr als einen Raum zu belüften. Dezentrale Lüftungsgeräte können dabei als Zu-/Abluftsysteme, aber auch als kombinierte Systeme ausgelegt werden.
Herr Reich, eben haben Sie das Kapitel 9 der neuen DIN 1946-6 erwähnt. Können Sie dieses bitte noch etwas genauer definieren?
Das Kapitel 9 über kombinierte Lüftungssysteme wurde hier komplett neu eingeführt. Dieses Kapitel beschreibt verschiedene Kombinationsmöglichkeiten zwischen freier und ventilatorgestützter Lüftung oder auch verschiedene Kombinationen von ventilatorgestützten Lüftungssystemen. Aufgrund der vielen Kombinationsmöglichkeiten wird in der Norm eine grundsätzliche Herangehensweise vorgeschlagen. Hierbei werden verschiedene Lüftungsbereiche definiert.
Anhand der Kombinationen können sich getrennte oder überlagernde Lüftungsbereiche ergeben. Diese unterscheiden sich dadurch, ob eine Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Lüftungssystemen vorliegt oder nicht. Je nachdem muss dann die Auslegung entsprechend der Systeme erfolgen.
Außerdem wird die Hybridlüftung beschrieben, bei der zwei Lüftungssysteme zeitlich versetzt oder unterstützend arbeiten. Das kann beispielsweise ein Ventilator im Lüftungsschacht sein, welcher nur eingeschalten wird, wenn der thermische Auftrieb zu niedrig ist.
Ist die neue DIN 1946-6, Ihrer Meinung nach, dadurch näher an der Praxis als vorher?
Grundsätzlich denke ich schon. Sie gibt meiner Meinung nach mehr planerischen Spielraum als vorher. Man kann einfach abschätzen, ob eine lüftungstechnische Maßnahme benötigt wird oder nicht. Und mit dem Kapitel zu kombinierten Lüftungssystemen, dem besagten Kapitel 9, können viele in der Praxis angewandte Kombinationen auch normativ beschrieben werden.
Leider gehen die Anforderungen an die einzelnen Systeme meiner Ansicht nach zu weit auseinander. Auf der einen Seite erlaubt die Norm die Auslegung von freien Systemen zum Feuchteschutz, zwingt aber andererseits ventilatorgestützte Systeme immer zur Nennlüftung.
Es kann also passieren, dass die Entscheidung auf ein einfaches freies Lüftungssystem (wie z. B. Quer- und Schachtlüftung) fällt, welches nach den Vorgaben als normgerecht eingestuft wird, anstatt auf ein gegebenenfalls vereinfachtes, aber effizienteres ventilatorgestütztes System mit Wärmerückgewinnung, das eben nicht die Kriterien zur Nennlüftung aufweisen kann oder nur knapp darunter liegt. Im Vergleich zu den freien Lüftungssystemen sind ventilatorgestützte Systeme wesentlich kontrollierter und besser planbar, außerdem verringert sich der Anteil des Nutzereingreifens deutlich. Das bedeutet mehr Komfort für den Bewohner, aber gleichzeitig auch mehr Sicherheit für den Werterhalt des Hauses. Außerdem ist eine venilatorgestützte Lüftung eine zuverlässige Investition in eine gesunde Raumluftqualität.
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