Das industriell konzipierte Sanierungsprojekt "REnnovates“ aus den Niederlanden modernisiert Sozialwohnungen in kurzer Zeit auf Nullenergie- Standard. Die Kosten für die Investition sollen die Gebäude dabei auf Dauer selbst refinanzieren.
Energie- und Wärmewende in den Niederlanden (ganz konkret) umgesetzt
Quartiere holistisch-energetisch sanieren
Mittwoch, 14.11.2018
Die Notwendigkeit eines besseren Klimaschutzes ist weitgehend unbestritten. In Europa wurden daher ambitionierte Klimaziele bis 2030 und 2050 definiert. Offen ist nur vielfach der Weg dorthin. In Deutschland etwa wird derzeit vehement über den Ausbau der Übertragungsnetze von Nord nach Süd diskutiert, während die Frage nach einer generellen Umstellung von Energieträgern weniger im Fokus steht.
Dagegen haben die Niederlande in den letzten Jahren einige konkrete Maßnahmen für die Energieerzeugung verabschiedet. In einem nationalen Klimakonsens wurde festgelegt, bis 2030 die Förderung von Erdgas in den Niederlanden zu beenden. Mindestens die Hälfte aller Gebäude sollen bis dahin vom öffentlichen Gasnetz abgekoppelt und mit überwiegend regenerativ erzeugtem Strom versorgt werden. Bereits 2021 sollen 75 Prozent aller neuen Häuser ohne einen Gasanschluss auskommen.
Das Projekt "Stroomversnelling" – übersetzt "Stromschnellen" – kümmert sich indes darum, ältere Gebäude auf den Energieträger Strom umzustellen. Das Programm wurde von der niederländischen Regierung zusammen mit sechs Immobilienunternehmen und den vier größten Baufirmen des Landes ins Leben gerufen. Es wird im Rahmen des EU-Programms "Horizon 2020" gefördert. Ambitioniertes Ziel: Bis 2020 sollen 111.000 ältere Wohneinheiten, überwiegend typisch holländische Reihenhaussiedlungen, auf Null- bis Plusenergie-Standard modernisiert und vom Gasnetz getrennt werden.
Neben der technischen Umsetzung ist dabei ein wichtiger Aspekt, dass sich die Modernisierung auf Dauer finanzieren lässt. Damit die alten Stromnetze angesichts dieser zusätzlichen Belastungen nicht kollabieren, müssen möglichst schnell möglichst viele dieser Gebäude ihren Strom selbst erzeugen und diesen auch zum Großteil lokal verbrauchen – so ergibt das Wortspiel der "Stromschnellen" auch einen Sinn.
"REnnovates" modernisiert aus dem Baukasten
Ein "Stroomversnelling"-Projekt sorgt für Aufsehen: In dem Sanierungsprojekt "REnnovates" hat die Royal BAM Group mit acht Partnerfirmen aus ganz Europa ein System entwickelt, das die Anforderungen flächendeckend einlöst – im sozialen Wohnungsbau. "REnnovates" setzt auf eine Sanierung kompletter Wohnviertel mit einer Reihe standardisierter Maßnahmen. Die Umbauzeit beträgt aufgrund einer umfassenden Vorproduktion der eingesetzten Teile acht Tage pro Haus. Die Bewohner können dabei sogar in ihren Wohnungen bleiben.
Dafür entwickelten die Royal BAM und ihre Partnerunternehmen standardisierte Komponenten: Jeweils eine neu gedämmte und mit Isolierglasfenstern ausgestattete Vorder- und Rückfassade, gedämmte Dachauflagen mit integrierten Photovoltaikzellen sowie ein "Energiemodul" mit der Photovoltaik-, Heiz- und Lüftungstechnik. Daneben werden die Häuser auch innen, etwa in Küche und Bad, renoviert – abhängig von den Wünschen und dem Budget der Immobilienbesitzer. Auf diese Weise wurden in den letzten Jahren rund 250 Häuser energetisch und baulich modernisiert.
Anpassbare Standardbauteile plus BIM
Alle Komponenten werden vormontiert geliefert und vor Ort an das Haus angebracht. Da die vielen Reihenhäuser zwar ähnlich, aber nicht identisch sind, werden die Bauelemente in der Produktion an jede Siedlung angepasst. Dafür nutzen die BAM-Planer die Methoden des "Building Information Modeling" (kurz BIM): Die Häuser werden per 3D-Scanner erfasst, so dass die Produktionsstraße die Fassaden- und Dachelemente technisch und optisch an die Form der Häuser anpassen kann.
"Durchschnittlich sind etwa 80 Prozent der Komponenten, Bauteile und Formen bei »REnnovates« standardisiert. Nur rund 20 Prozent werden pro Haus oder Siedlung individuell angepasst", berichtet Dennis van Goch, der technische Projektleiter der Royal BAM Group.
Durch ihre gedämmte Gebäudehülle sparten die Häuser rund 60 Prozent an Heizenergie ein, berichtet van Goch. Die übrige Energieversorgung erfolgt weitgehend über Solarstrom vom eigenen Dach – und das "Energiemodul". Das ist ein vormontierter Mini-Container, ausgestattet mit der kompletten neuen Haustechnik aus Photovoltaik-Wechselrichter, Stromspeicher, Wärmepumpe und Warmwasserspeicher.
Das "Energiemodul" wird am Stück geliefert, per Kran vor oder hinter dem Haus aufgestellt und dort an die zentralen Versorgungsanschlüsse angebunden. Laut BAM-Experten dauert die Installation des Moduls vor Ort rund zwei Stunden. Dann komme warmes Wasser aus dem elektrisch beheizten Wasserspeicher mit Strom vom eigenen Dach, statt aus der Gastherme.
Möglich wird die elektrische Versorgung aller Anlagen im Haus durch ein intelligentes Energiemanagement vom belgischen Konsortialpartner Enervalis, das möglichst viel Strom vom Dach in die Beheizung des Warmwasserspeichers oder in die Hausbatterie steckt, wenn er gerade erzeugt wird. Über eine Visualisierung der Energieströme sehen auch die Bewohner, wann sie mit Strom vom eigenen Dach heizen oder waschen.
(Elektrische) Haustechnik mit EEBUS und Energiemanager
Damit sich alle Komponenten der Nullenergiehäuser untereinander verstehen, programmierten die Software-Spezialisten der Kölner KEO GmbH Kommunikationsschnittstellen auf Basis des EEBUS-Standards. Diese Vernetzungsspezifikationen verbinden alle energierelevanten Systeme und Geräte im Haus über Hersteller- und Systemgrenzen hinweg. Darüber hinaus bietet jedes Haus eine Schnittstelle zum intelligenten Stromnetz – dem "Smart Grid". Die EEBUS-Kommunikation bildet dabei eine Art unsichtbare Vermittlungsebene zwischen allen Komponenten, mit der etwa die Energiemanager-Software auf jede Komponente und deren Funktionen zugreifen kann.
Die universelle EEBUS-Kommunikation macht es möglich, dass sich etwa das Modell der Wärmepumpe je nach Größe des Hauses oder Kundenwunsch ohne großen Aufwand austauschen lässt. "Die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Systemen und Sektoren mit EEBUS ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für »REnnovates«", bestätigt Dennis van Goch von der Royal BAM. "Durch den offenen Standard der EEBUS-Kommunikation müssen wir uns auf keine bestimmten Systeme oder Hersteller festlegen und können künftig für jedes Projekt und in jedem Markt die optimalen Komponenten einsetzen."
Leben im "Smart Neighbourhood"
Im "REnnovates"-Projekt geht die Idee des Energiemanagements aber noch einen Schritt weiter: Die einzelnen Häuser werden zu intelligenten Wohnquartieren vernetzt, in denen sich die Haushalte gegenseitig mit Energie aushelfen können. Das ist gerade angesichts der nationalen Pläne besonders wichtig: Mit immer mehr Elektroheizungen und künftig überwiegend elektrischen Autos muss das Stromnetz viel mehr Energie verteilen als bisher.
Ohne lokale Erzeugung im größeren Stil sowie intelligente Energieverteilung würde dies milliardenschwere Netzausbauten erfordern. Bei "REnnovates“ war daher von Anfang an der regionale Stromnetzbetreiber Stedin mit im Boot. Er schließt die einzelnen Wohnviertel nun, vernetzt über lokale Energiemanagement-Gateways und die zentrale Energiemanagement-Software von Enervalis, zu intelligenten "Micro Smart Grids" zusammen.
Beim Zusammenspiel der Energietechnik im Haus und einem möglichen Lastausgleich im Quartier treffen auch erstmals zwei zukunftsträchtige Vernetzungsmodelle aufeinander. Innerhalb der einzelnen Wohneinheiten sorgt die EEBUS-Kommunikation dafür, dass Wechselrichter, Stromspeicher, Wärmepumpe und Warmwasserspeicher ihren Energiebedarf mit dem variablen Angebot an Sonnenstrom abgleichen. Auf diesem Wege stehen die per EEBUS standardisierten Last- und Kapazitätsinformationen dem übergreifenden Energiemanagement zur Verfügung.
An der Übergabestelle zum Netz werden die Informationen aus allen Häusern dafür von einer Energiemanagement-Zentrale gesammelt und für die Nutzung im "Smart Grid" aufbereitet. Aufgrund von Wetterprognosen und Statistiken weiß die Cloud-Zentrale des Energiemanagements, welche Speicherkapazitäten und welchen Bedarf an Energie das Wohnviertel jetzt und in naher Zukunft haben wird. Diese Informationen stellt sie dann dem Betreiber des lokalen Netzes ebenfalls in einer "gemeinsamen Sprache" zur Verfügung: Im sogenannten USEF-Format (Universal Smart Energy Framework).
USEF wurde unter anderem von Stedin entwickelt und ist eine Sprache, die Flexibilität im Verteilnetz organisiert – im Grunde analog zur EEBUS-Kommunikation innerhalb des Hauses. Sie vermittelt zwischen Erzeugungs- und Speicherkapazitäten sowie Lasten und Verbrauchsanforderungen. Dabei verarbeitet USEF keine Daten aus einzelnen Häusern, sondern tauscht Informationen über Flexibilitätsangebote zwischen "Aggregator" (hier der zentrale "REnnovates"-Energiemanager), Verteilnetzbetreiber (sog. DSO – Distribution System Operator) und dem Stabilitätsmanager im Netz beziehungsweise beim Stromanbieter (sog. BRP – Balance Responsible Party) aus.
Ziel der Übung ist, möglichst viel lokal erzeugte Energie im Quartier zu nutzen oder zwischenzuspeichern und so die oberen Netzebenen nicht unnötig durch die neuen Stromverbraucher, wie Wärmepumpen oder künftig E-Auto-Ladestationen, zu belasten.
Bei "REnnovates" kommen sowohl Wärmepumpen mit elektrisch beheizten Warmwasserspeichern als auch Hausbatterien als flexible Speicher und Lasten zum Einsatz. In einzelnen "REnnovates"-Siedlungen wurden zusätzlich dazu Quartiersbatterien installiert, um noch mehr flexible Speicher- und Lastkapazitäten nutzen zu können.
Stedin-Projektplaner und USEF-Mitentwickler Milo Broekmans hält indes häusliche Stromspeicher für die beste Lösung: "Unser Ziel ist es, zusätzliche, flexible Lasten möglichst ohne teuren Netzausbau zu realisieren. Eine große Quartiersbatterie benötigt allerdings einen genügend starken Transformator und in der Regel auch ein stärkeres Netz, um PV-Überschüsse aus den einzelnen Häusern in die Batterie und später zurückzuleiten."
Die Modernisierung trägt sich selbst
Unterm Strich bringt die vernetzte Flexibilität für alle Beteiligten Vorteile: Der notwendige Netzausbau durch die Umstellung auf elektrische Heizungen und immer mehr E-Autos wird wirkungsvoll begrenzt, während sich die eingesetzte Technik vor Ort für Immobilienbesitzer und Mieter lohnt. Immobiliengesellschaften erhalten den Wert ihrer Objekte, während die Mieter von dauerhaft stabilen Energiekosten profitieren.
Tatsächlich ist das Projekt so kalkuliert, dass sich für die Bewohner kostenseitig nichts ändert: Die Kosten pro Haus betragen rund 50.000 Euro, die natürlich zunächst einmal finanziert werden müssen. Die Tilgung erfolgt dann aber über den viel geringeren Bedarf an Energie aus dem Netz: Mieter bezahlen künftig nur noch im Falle eines außerordentlichen Mehrverbrauchs eine minimale Stromrechnung. Die Differenz zur bisherigen Strom- und Gasrechnung wird als Servicepauschale für die neue Haus- und Energietechnik erhoben.
Immobiliengesellschaften, denen die Wohnsiedlungen gehören, gewinnen durch die Sanierung nicht nur den generellen Erhalt und eine deutliche Aufwertung der Immobilien. Die Royal BAM und ihre Partnerunternehmen gewährleisten gegen eine Servicepauschale auch den Betrieb und die technische Wartung der neuen Energietechnik in den Häusern. Die längere Nutzung der Immobilien mit gleichbleibenden bis leicht steigenden Mieteinnahmen und geringeren Unterhaltskosten sollen so die jetzige Investition in den nächsten Jahrzehnten refinanzieren.
Im Moment befindet sich das System noch in der Erprobungsphase, auch was die tatsächlichen Energie- und Kostenbilanzen angeht. Zukünftig sollen sich auch Kosten für den Netzausbau, welche sich durch die Flexibilisierung einsparen lassen, auf die Investitionen in den Häusern anrechnen lassen. Dann können die Royal BAM und ihre Partner als Betreiber der Energietechnik auch durch die Bereitstellung von Flexibilität im Stromnetz entsprechend den USEF-Anforderungen neue, zusätzliche Ertragsquellen erschließen.
Auf zwei weniger technische Schwerpunkte legen die "REnnovates"-Verantwortlichen besonderen Wert. Erstens: Diese Art der Modernisierung wurde nur möglich, indem sich die Konsortialpartner aus höchst unterschiedlichen Branchen zusammensetzten, sich austauschten und dabei ihre üblichen Denkmuster hinterfragten. Und: Der Bewohner bzw. der Gebäudenutzer steht bei "REnnovates" im Mittelpunkt. Das Projekt verbessert die Wohnqualität, senkt die Baukosten gegenüber individuellen Sanierungen, minimiert den Energieverbrauch und macht die Bewohner zu aktiven Teilhabern an der Energie- und Wärmewende.
Fazit: Über den "Zaun" zu schauen, kann sich lohnen!
Wenn man die "REnnovates"-Projekte betrachtet und sich mit deren Machern aus der Bau-, Energie- und Netzbetreiber-Branche unterhält, dann entsteht ein recht gutes Bild davon, wie die Energiewende und Sektorenkopplung funktionieren kann: Ein klarer Fokus auf die Vorteile aller Maßnahmen für die Nutzer sowie die Maxime, möglichst viel Energie dort zu gewinnen, wo sie auch benötigt wird, zeichnet "REnnovates" aus – vor allem, um kostspielige und schwierig umsetzbare Netzausbauten zu minimieren.
Diese Methode ist in den Niederlanden (auch politisch) hoch priorisiert: Der Minister für Wirtschaft und Klima, Eric Wiebes, trat beim Abschlussevent der ersten 250 "REnnovates"-Nullenergiehäuser auf und machte sich für weitere "Stroomversnelling"-Projekte stark. Kurze Zeit vorher zog der deutsche Bundesminister für Wirtschaft und Energie, Peter Altmaier (CDU), durch Deutschland und propagierte auf dürren Feldern den Netzausbau im großen Stil (Hash-tag: #NetzeJetzt). Von einer Förderung der Flexibilität in den hunderten deutschen Verteilnetzen war dabei kein Wort zu hören.
Immerhin: Das europäische "REnnovates"-Konsortium hat bereits Niederlassungen in mehreren Ländern eröffnet, um das Konzept der holistischen, systematischen und bezahlbaren energetischen Modernisierung auf andere Märkte zu übertragen – auch nach Deutschland!
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