Abwasserwärme-Kataster Oldenburg animiert zur nachhaltigen Wärmeversorgung.
Kalte Fernwärme vor der Haustür
Donnerstag, 03.12.2020
Immer mehr Immobilienbetreiber besinnen sich des Abwasserwärme-Potentials zwei Meter unter der Straßendecke. In Oldenburg startete vor einigen Jahren ein Pilotprojekt am Gebäude des Instituts für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e.V. (IRO), ein Jugendstil-Altbau, dessen gute Ergebnisse bereits zwei örtliche Investoren zur Nachahmung angeregt haben. Darüber hinaus führte die Begleitforschung zur Konzeption eines Prüfstands für Wärmeübertrager und zum Aufbau eines städtischen Abwasserwärme-Katasters, das straßenbezogene Richtwerte für Wohnungsbaugesellschaften enthält.
Kühlt man 12-grädiges Abwasser auf 10 °C ab, so liefern diese 2 K einen Ertrag je Kubikmeter Abwasser von rund 2 kWh. Ein gewerblicher oder kommunaler Abwasserkanal mit beispielsweise einem durchschnittlichen Volumenstrom von 20 m3/h ist demnach für eine Heizleistung bis etwa 40 kW gut. Die Abwasserwärmenutzung kann mithin zur Energie- und Ressourcenschonung beitragen und die CO2-Belastung mindern. Die Literatur nennt als konkrete Zahl eine theoretische Vollversorgung von total zehn Prozent aller Haushalte aus der Wärmequelle "Kanalisation". Diese Angabe basiert auf einem Abfluss von 15 l/s im Tagesmittel. Die relativ hohen Wärmequellen-Temperaturen zwischen 10 und 15 °C versprechen in Verbindung mit einer Wasser/Wasser-Wärmepumpe einen COP um 5. Die Heizkosten reduzieren sich dadurch so erheblich, dass sie innerhalb eines akzeptablen Zeitraums die Investitionskosten einspielen. Im Prinzip stellt die öffentliche Kanalisation ja ein bereits bestehendes kaltes Fernwärmenetz dar, das heute in Diskussionen zur Wärmewende immer wieder ein Thema ist.
Als Wärmeübertragersysteme kommen unterschiedliche Ausführungen zum Einsatz: als erste grobe Unterteilung Wärmeübertrager im Kanal, etwa in Form von in die Rohrsohle eingelegten Rinnen-Wärmeübertragerblechen. Die Alternative dazu besteht in den Platten- und Rohrbündel-Wärmeübertragern außerhalb der Abwassertrasse in einem Technikraum oder einer separaten Einhausung, zum Beispiel einem Container. Diese Installations-Architektur bedarf neben der Verbindung zu den Heizkreisen einer zweiten Rohrbrücke zum Kanal für den abgepumpten Abwasser-Teilstrom.
Die Erlaubnis zur Anbindung an das unterirdische Energiereservoir bedarf freilich der Zustimmung der Behörden und Institutionen – und zwar nicht nur des Wasser-/Abwasser-Versorgers. Unter Umständen, je nach Lage des Kanals und des Grundstücks, muss ebenfalls das Ordnungs- oder Verkehrsamt die Baumaßnahme bewilligen. Einfach deshalb, weil die Mehrheit der Kanäle nun mal in Straßen liegen und die Brücke zur Wärmepumpe ins Haus Straßenbauarbeiten voraussetzt.
Als das Institut für Rohrleitungsbau an der Fachhochschule Oldenburg e.V. (IRO) in Zusammenarbeit mit dem Oldenburgisch-Ostfriesischen Wasserverband (OOWV) eine Rinnen-Wärmeübertrageranlage zur Beheizung des vierstöckigen IRO-Gebäudes andachte, legte ihnen die Stadt keine Steine in den Weg, obwohl die zuständige Behörde die viel befahrene innerstädtische Ofener Straße in Oldenburg auf einer Länge von etwa 50 m verengen musste. Da dieses Nadelöhr aber weiterhin Gegenverkehr zuließ, stand einer Ausführung nichts im Wege. Allerdings machte die Kommune Auflagen hinsichtlich des Zeitpunkts der Baggerarbeiten: im Dezember mit relativ dünnem Verkehr.
Pilot in Oldenburg
Für das IRO als Interessensvertretung der Rohrleitungsbauer hatte das Projekt auch Selbstversuchscharakter, um belegbare Daten für diese Art der regenerativen Wärmeerzeugung zu generieren und der Deutschen Vereinigung für Wasserwirtschaft, Abwasser und Abfall e.V. (DWA) für deren Regelwerke zur Verfügung zu stellen. Deshalb begleiteten in den ersten zwei Jahren nach der Inbetriebnahme wissenschaftlich sowohl das IRO als auch Studierende des Rohrleitungsbaus an der Jade Hochschule Oldenburg die Untersuchungen. Dabei ging es unter anderem um die Frage der Energieeffizienz von strömenden Medien, ferner um die Betriebssicherheit – etwa bezogen auf den Wärmeübertrager im Abwasserrohr, der eventuell durch Kanalreinigungsarbeiten beschädigt werden könnte –, natürlich ebenfalls um die Optimierung der verschiedenen Komponenten unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Kanalfüllung: Wie sollten Speicher und Wärmepumpe dimensioniert sein, um die Taktzahl niedrig zu halten? Die Tauscherstrecke im Kanal hat eine Länge von 15 m und besteht aus einzelnen Edelstahl-Segmenten. Diese wurden über den Kanalschacht in die Abwassertrasse, Nennweite 1,20 m, eingebracht, zusammengesteckt und auf der Sohle verlegt. Die kalkulierte Leistung bei einer mittleren Abwassertemperatur von 14 °C beträgt 40 kW. Die Kanalisation bedient eine zweistufige Wasser/Wasser-Wärmepumpe, also mit zwei Kompressoren, von Weishaupt mit einer Nennleistung von 50 kW. Der steht zwar ein Spitzenlastkessel zur Seite, aber im Prinzip temperiert die Maschine ganzjährig monovalent die Räume und das Trinkwasser.
COP um 4,5
Projektleiter Mike Böge vom IRO: "Selbst bei Außentemperaturen im Frostbereich fallen die Abwassertemperaturen selten unter 9 °C. Vor zwei oder drei Jahren hatten wir eine längere Kälteperiode mit minus 10 °C und kälter, da musste der Kessel zuschalten. In den letzten zwei Wintern aber nicht ein einziges Mal. Der COP bewegt sich im Mittel um 4,5. Im Prinzip heizen wir ja auch zu einem gewissen Grad mit der oberflächennahen Geothermie. Denn wenn etwa im Dezember die Abwassertemperaturen sinken, schiebt mit steigendem Delta T zum Boden das umgebende wärmere Erdreich ein Teil seiner Kalorien in das kältere Abwasser. Eine Abwassertemperatur von 9 oder 10 °C stellt sich erst im Februar ein. Dann muss an einigen sehr kalten Tagen die Wärmepumpe den Vorlauf auf 45 oder 50 °C hochfahren. Im Normalfall kommen wir aber in der Heizperiode mit niedrigeren Vorlauftemperaturen aus." Weil die großvolumigen klassischen Heizkörper hinter den historischen Fassaden sozusagen genügend Reserve beinhalten.
Wenn der COP der Wärmepumpe auf 4,2 zurückgeht, steht eine Kanalreinigung an. Die muss das IRO aber nicht ordern. Mike Böge hat den ohnehin bestehenden Turnus von zwei maschinellen Durchgängen pro Jahr so mit der kommunalen OOWV abgesprochen, dass einer auf den Dezember fällt, wenn die Heizperiode ihrem Höhepunkt zugeht. Zu Beginn des letzten Monats im Jahr hat der COP wegen der sogenannten Sielhaut und anderen Belägen auf den Blechen seinen Tiefstand erreicht, was aber wegen den bis dato moderaten Außentemperaturen, mit moderaten Heizungs-Vorlauftemperaturen im Gefolge, die Wärmepumpeneffizienz nicht über Gebühr strapazierte. Die Dezemberreinigung säubert das System also für die härteren Wintermonate, wo Filme und Verkrustungen zu einer Wärmeunterdeckung führen könnten. Ein Ergebnis des Monitorings: Die schalenförmig gebogenen Rinnen-Wärmeübertrager auf der Kanalsohle leiden nicht unter dem Bürsteneinsatz. Mit ganz aktuellen Bildern aus der Wärmequelle "Kanalisation" sieht es aber im Moment trübe aus. Die Reinigungsmaschinen waren gründlich: Sie haben den Kanal auch von der Kamera befreit.
Überlegenswert ab 15 l/s
Technisch stellte die Installation keine allzu hohen Ansprüche. Die Boos Haustechnik GmbH, Varel, verantwortete im Pilotprojekt die angeschlossene Haustechnik. Die entsprechende Schnittstelle zu den externen Tiefbau- und Kanalarbeiten besteht letztlich aus einem Schieber am Eingang in die Technikzentrale des IRO-Gebäudes. Die Hohlbleche im Kanal müssen allerdings eine Mindestleistung zulassen. Die Wärmepumpe benötigt einen Mindestdurchfluss, sonst friert sie ein. Folglich muss ein Strömungswächter den Durchfluss kontrollieren und eventuell den regenerativen Wärmeerzeuger ausschalten.
Eine Großstadt wie Oldenburg mit einem 835 km langen Kanalnetz bietet noch genügend weitere Möglichkeiten, die strömende Wärme unterhalb der Straßen für Heizzwecke wirtschaftlich einzusetzen, etwa für Schulen, Sporthallen und größere Gebäudekomplexe mit entsprechend hohem Energiebedarf. Wirtschaftlich gesehen, dürften sich solche Systeme ab etwa 50 kW rechnen, wenn einige Voraussetzungen, so der genannte Durch- oder Abfluss von 15 l/s im Tagesmittel, erfüllt sind. Redundanz in Form eines Spitzenlastkessels ist wohl im Einzelfall ebenfalls notwendig, was allerdings der "Selbstversuch" des IRO in Oldenburg nicht unbedingt bestätigt. Ein einfacher elektrischer Heizstab im Pufferspeicher hätte hier auch genügt. Natürlich sollten die zu beheizenden Gebäude relativ dicht zur Hauptabwassertrasse stehen.
Stadtplan mit den Potentialen
Weshalb die Abwasserwärmenutzung trotz ihrer möglichen Attraktivität selten in das Blickfeld des Vorplaners rückt, hat etwas mit der entscheidenden Unbekannten zu tun – der Durchflussmenge. Sie liegt standortbezogen nicht vor. Sie müsste aufwendig eruiert werden, was die Chancen der Wärmequelle "Kanalisation" minimiert, schaut man sich die Anzahl der deutschlandweiten Projekte an. Die Stadt Oldenburg hat dieses Hemmnis einer nachhaltigen Wärmeversorgung dieser Art erkannt: Die überzeugenden IRO- Resultate veranlassten sie, eine Potentialanalyse in Auftrag zu geben und die Ergebnisse zu einem straßenbezogenen Abwasserwärme-Kataster auszuwerten, um so "die Nutzung von Abwasserwärme zur Beheizung von Wohngebäuden zu einem Baustein des integrierten Energie- und Klimaschutzkonzeptes der Stadt zu machen", wie es die ehemalige Oldenburger Bau- und Verkehrsdezernentin, Gabriele Nießen, ausdrückte. Die Analyse beziehungsweise die Umsetzung in eine Potentialkarte zeigt den tatsächlichen Energietransport im Oldenburger Kanalsystem mit Detailmessungen an besonders geeigneten Stellen. Diese belastbaren Daten sollen entsprechende innovative Versorgungslösungen initiieren. Das theoretische Potential für Oldenburg liegt bei einer installierten Leistung von 2.875 kW. Im Vergleich zu einer flächendeckenden Gasversorgung könnten mit Abwasser-Wärmepumpen jährlich rund 950 Tonnen CO2 eingespart werden.
Die Potentialanalyse kam ihrer Funktion, die Abwasserwärmenutzung zu fördern, bereits nach. Im Oldenburger Neubauquartier "Wechloyer Tor" profitieren 8.000 Quadratmeter Wohnfläche in 90 Wohnungen mit Hilfe einer Wärmepumpe von 55 kW von der Heizenergie aus der Kanalisation. Umweltschonend kommen 16 kW dazu, die aus der Abluft der Wohnungen zurückgewonnen werden. Rund 75 Prozent des Wärmebedarfs der Wohnungen werden damit umweltfreundlich gedeckt. Ein Erdgaskessel dient zur Abdeckung der Spitzenlasten von kalkulatorisch bis 200 kW.
Und auf dem Gelände "Alter Hafen" an der Hunte entsteht ein neues Viertel mit Wohn- und Bürogebäuden: Hier werden mindestens 300 Wohnungen, respektive 20.000 m2 Wohnfläche, in der Endausbaustufe ihre Heizwärme von 600 kW aus dem Mischwasserkanal beziehen. Mit seinem begehbaren Durchmesser von 1,50 Meter, was die Montagearbeiten erleichtert, und einem Mindestdurchfluss von 220 l/s drängte sich der Hauptsammler der Stadt Oldenburg für dieses Projekt förmlich auf. Das Geld liegt in Oldenburg nicht auf der Straße, sondern unter der Straße: Der Investor, die Immobilienfirma Kubus, verspricht den Mietern mit den Wärmepumpensystemen und den Wärmeübertragern in der unterirdischen Rohrleitung eine Einsparung an Heizkosten gegenüber Erdgas von rund 30 Prozent. Die Edelstahlelemente liegen hier auf einer Länge von insgesamt 200 m im Kanal.
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