Technologieanbieter stehen vor besonderen Herausforderungen, um die Qualität ihrer komplexen Produkte und Lösungen zu gewährleisten. Holger Herchenhein kennt diese Herausforderungen. Im HeizungsJournal-Interview spricht der Senior Vice President Quality & Qualification beim Pumpen- und Pumpensystemhersteller Wilo über den Reiz daran, Prozesse zu verstehen, Probleme zu lösen und Produktqualität langfristig sicherzustellen.
„Qualität ist ein Muss, kein Kann!“
Interview mit Holger Herchenhein, Senior Vice President Quality & Qualification der Wilo Gruppe
Freitag, 12.05.2023
Herr Herchenhein, heißt Qualitätsmanagement eigentlich, dass Sie den ganzen Tag nur mit Problemen und Mängeln zu tun haben?
Ja und Nein (lacht). Unsere Aufgabe ist, ganz konkrete Qualitätsmängel zu beheben und Probleme zu lösen. Wilo ist ein Premium-Anbieter. Und als Premium-Anbieter haben wir sehr, sehr hohe Qualitätsstandards. Wenn Produktprobleme an uns herangetragen werden, ist der Druck groß, den Fehler schnellstmöglich zu finden und zu beheben. Das macht den Reiz am Qualitätsmanagement aus. Eine Lösung für ein handfestes, drängendes Problem zu finden, ist ein gutes Gefühl. Jede Qualitätsmanagerin und jeder Qualitätsmanager wird das bestätigen.
Aber Qualitätsmanagement ist doch noch mehr?
Ja. Beim Qualitätsmanagement geht es nicht darum, nur auf Probleme zu reagieren. Früher war das tatsächlich der Fall: Das Qualitätsmanagement hat das Soll mit dem Ist abgeglichen und den Fehler gesucht. Heute denken wir ganzheitlich. Wir entwickeln zuverlässige Prozesse, beschaffen langlebige Materialien und gewährleisten normkonform hergestellte Endprodukte. Wir betrachten also die gesamte Wertschöpfungskette von der Entwicklung über die Beschaffung bis hin zu Fertigung, Logistik, Betrieb und Recycling. Qualitätsmanagement ist ein Dauerbegleiter des Produkts – von Anfang bis Ende.
Sie „reagieren“ also nicht mehr nur auf Fehler, sondern beugen diesen vor?
Richtig. Inzwischen sind wir aber noch einen Schritt weiter. Wir sprechen heute nicht mehr nur von präventivem, sondern von Zuverlässigkeitsmanagement.
„Zuverlässigkeitsmanagement“ – was heißt das konkret?
Präventives Qualitätsmanagement ist produktfokussiert. Es geht darum, mögliche Fehler und Fehlerquellen durch die Auswertung von bekannten Problemen auszuschließen. Wir setzen heute aber früher an als am fertigen Produkt. Wir versuchen, Produktqualität über Prozessqualität zu sichern. Das schaffen wir, indem wir Prozesse darauf prüfen, ob sie die richtigen Voraussetzungen für ihre gewünschten Endergebnisse bieten. Konkreter: Am Ende von Prozess X soll Produkt Y mit definierten Maßen, Festigkeiten und Funktionen stehen. Kann der Prozess das überhaupt leisten? Und wenn nein, an welchen Stellschrauben müssen wir drehen, damit es klappt, ohne dabei die Prozesssicherheit zu gefährden?
Das ist ein wesentlich komplexerer Ansatz …
Die Vorgehensweise ist technisch und fachlich komplexer. Im besten Fall kennen wir die Prozesse hinter allen Schritten der Wertschöpfungskette eines Produkts. Wir suchen nicht mehr nur nach dem Fehler, sondern müssen Ursache-Wirkungs-Mechanismen in Prozessen verstehen. Unser Ziel ist also, sämtliche Prozesse in der Wertschöpfung so sicher und zuverlässig zu machen, dass Prüfungen und Tests obsolet sind.
Sie betreiben also erheblichen Aufwand für das Qualitätsmanagement und seine Weiterentwicklung. Mit Erfolg?
Die Zahlen geben uns jedenfalls Recht. Wir konnten die Gesamtzahl der Beanstandungen von Kundinnen und Kunden an unseren Produkten in den vergangenen zehn Jahren um mehr als die Hälfte reduzieren – um hier nur eine unserer 18 Kennzahlen zu nennen. Und das, obwohl unsere Produkte technisch gesehen immer komplexer werden. Aber ich möchte keinen falschen Eindruck erwecken: Qualität ist – erst recht bei einem Premium-Anbieter wie Wilo – eine Selbstverständlichkeit. Unser Vorstandsvorsitzender und CEO, Oliver Hermes, spricht von einem „Hygienefaktor“. Da stimme ich zu: Qualität ist ein Muss, kein Kann.
Genau wie Nachhaltigkeit: Das „Sustainability Management“ von Wilo fällt ebenfalls in Ihre Verantwortung. Was hat Nachhaltigkeit denn mit Qualitätsmanagement zu tun?
Nachhaltigkeits- und Qualitätsmanagement funktioniert nur ganzheitlich. Wir blicken in beidem auf das Produkt von der Entwicklung bis zum Recycling. Zwar geht unsere Nachhaltigkeitsstrategie weit über das Produkt hinaus, dennoch liegt hier eine zentrale Gemeinsamkeit. Ein Beispiel für die Verschmelzung der beiden Fachbereiche ist unser Team Produktanalyse, Reparatur und Recycling. Die Kolleginnen und Kollegen nehmen Altprodukte entgegen, ermitteln ihre Ausfallursache und dokumentieren die Ergebnisse für die Produktentwicklung. Anschließend prüfen sie, ob sie die Bauteile für Reparaturen oder Neuprodukte verwenden können. So verwenden wir jährlich über 30.000 Bauteile wieder.
Und welche?
Zum Beispiel Seltene-Erden-Magnete. Sie stecken in den Permanentmagnet-Motoren von Hocheffizienzpumpen. Seltene Erden – das sind insgesamt 17 Metalle, die zu den begehrtesten Rohstoffen der Welt zählen und die fast ausschließlich in China abgebaut werden. Schon heute ist absehbar, dass die Neugewinnung dieser Metalle den künftigen Bedarf nicht decken wird. Um sie im Rohstoffkreislauf zu halten, haben wir einen Pumpen-Rücknahmeprozess ins Leben gerufen. Wir sammeln die Altpumpen bei unseren Kunden ein, bauen die Magnete aus und recyceln sie.
Ist das keine Gefahr für die Qualität?
Definitiv nicht. Zwar verwenden wir tatsächlich einige der ausgebauten Magnete direkt für neue Produkte wieder, dafür müssen sie aber einem Qualitätskriterienkatalog entsprechen. Alle anderen verarbeiten wir mit unseren Verwertungspartnern zu Pulver, aus dem dann neue Magnete entstehen. Sicher ist: In jeder neuen Wilo-Hocheffizienzpumpe stecken nur neuwertige Bauteile. Immerhin geben wir auf alle Produkte die gleiche Garantie.
Wilo sieht sich als digitaler Pionier der Branche. Welchen Einfluss hat die Digitalisierung auf Ihre Arbeit?
Die Möglichkeiten der Digitalisierung sind noch nicht vollends absehbar. Klar ist aber schon jetzt, dass die Daten, die unsere Produkte im Feld aufzeichnen, eine immer größere Rolle für das Qualitätsmanagement spielen werden. Wir unternehmen gerade die ersten Versuche, sie mittels künstlicher Intelligenz auszuwerten und automatisiert Schlüsse aus ihnen zu ziehen. Das wird sicher noch einmal einen Paradigmenwechsel für das Qualitätsmanagement bedeuten.
Herr Herchenhein, lassen Sie uns zum Schluss einen „Blick in die Glaskugel“ werfen. Wie sieht das Qualitätsmanagement der Zukunft aus?
Das Qualitätsmanagement der Zukunft ist ein vollvernetzter Prozess, der in Echtzeit und weitgehend automatisiert Einfluss auf die Produktion und alle vor- und nachgelagerten Prozesse nimmt. Vernetzung braucht es aber auch geografisch. Wir sehen derzeit starke Decoupling-Tendenzen. Globale Wertschöpfungsketten entflechten sich mehr und mehr. Umso wichtiger ist, dass Produktionsstandorte von multinationalen Konzernen wie Wilo virtuell noch enger zusammenrücken und Qualitätsnetzwerke bilden.
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