Wärme

Wärmepakete aus der Rohrpost

Blaupause aus Zwickau für bundesweit ähnliche Quartiere

Dienstag, 13.07.2021

Wie kann man in einem Bestandsquartier den Umwelt- und Klimaschutz praktisch umsetzen? Um Antworten auf diese Fragen bemüht sich auf Initiative der Stadt Zwickau das Projekt „Zwickauer Energiewende demonstrieren“ (ZED). Die Bundesregierung erhofft sich von den Ergebnissen wichtige Erkenntnisse für die künftige Gestaltung der Energiewende in deutschen Städten. Sie unterstützt das Großprojekt mit 16 Mio. Euro.

Quelle: Claudio Schwarz | @purzlbaum/Unsplash

Gleich zwei Bundesministerien greifen tief in das Staatssäckel. Das für Wirtschaft und Energie (BMWi) und das für Bildung und Forschung (BMBF) erwarten sich von dem Projekt eine sozialverträgliche Blaupause für bundesweit eine Vielzahl von Quartieren und Wohnarealen. Blaupause, sowohl was die finanzielle Mehrbelastung der Mieter angeht – so wenig wie möglich – als auch die CO2-Effizienz in Richtung Klimaziele 2030. Noch steht ZED in der Phase des Ideenwettbewerbs. Der Sieger des Vergleichs der Systeme zur Energieversorgung von 800 Haushalten darf sich berechtigte Hoffnungen machen, dann auch als Leuchtturmprojekt realisiert zu werden. Die vier Jahre Vorarbeit, seit 2017, die Förderung der beiden Ministerien und die Investitionen der zwölf Partner aus Wirtschaft und Wissenschaft machen eigentlich nur Sinn, wenn die praktische Umsetzung die Theorie bestätigt.

Die Herausforderung besteht darin, die Balance zwischen den drei Aspekten energetische Effizienz, Sozialverträglichkeit und Nachhaltigkeit zu finden. Obwohl diese drei Eigenschaften beim ersten flüchtigen Betrachten in ein und demselben Schubfach liegen, stehen sie sich doch zum Teil konträr gegenüber: Eine hohe Energieeffizienz beispielsweise gilt nicht als nachhaltig, wenn sie nicht mindestens 20 oder 25 Jahre Bestand hat. Man denke nur an durchnässte Wärmedämmungen. Einer nachhaltigen, aber teuren Lösung mangelt es an Sozialverträglichkeit, wenn sie die Bewohner über einen zumutbaren Modernisierungsaufschlag hinaus belastet. Nach Möglichkeit sollte sie sich durch die Einsparungen selbst finanzieren. Das geht in der Regel nicht auf, sollte aber die Planungsrichtung eines Sanierungsentwurfs sein.

Das heißt, der Umbau einer umwelt-unfreundlichen Wärmeversorgung von älteren Wohnvierteln zu weitgehend klimaneutralen Quartieren setzt unter anderem die Akzeptanz der Bewohner voraus. Die hat das Vorhaben laut Sven Leonhardt, Projektkoordinator für das Dezernat Bauen der Stadt Zwickau, mehrheitlich: „Wir erleben viele sehr konstruktive Gespräche.“ Die sächsische Metropole hat Initiative ergriffen und sich zur energetischen Sanierung von Zonen im Stadtteil Marienthal um eine Unterstützung aus dem interministeriellen Programm „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt“ beworben – und sie erhalten. Etwa ein Drittel der Menschen in dieser Agglomeration sind im Renten- und Pensionsalter. Bei den Gebäuden handelt es sich überwiegend um Mehrfamilienhäuser aus den 1960er-Jahren.

Foto: Marienthal, Zwickau - Das „Leuchtturmprojekt“ ZED bemüht sich anhand des Modifizierens der Energieeffizienz, sozialen Verträglichkeit und Nachhaltigkeit darum, wie eine zukunftsfähige Quartiersversorgung aussehen sollte.
Quelle: Genath
Seit 1902 gehört Marienthal mit heute etwa 15.000 Einwohnern zu Zwickau. Der Stadtteil soll in den nächsten Jahren klimaneutral werden. Das „Leuchtturmprojekt“ ZED bemüht sich dabei anhand des Modifizierens der drei Variablen Energieeffizienz, soziale Verträglichkeit und Nachhaltigkeit um eine Antwort auf die Frage, wie eine zukunftsfähige Quartiersversorgung aussehen sollte.

Drei Variable

Rund 800 Einheiten mit teils langjährigen Mietverhältnissen sollen nach aktueller Planung klimaneutral versorgt werden. Dazu nutzt ZED eine Mischung aus Photovoltaik (PV), Geo- und Solarthermie, Speicherlösungen, smartem Software-Einsatz, Smart Home Elementen und Elektromobilität. Um das zu vermitteln, widmet sich ein Teilbereich gezielt der Einbindung der Anwohner. Die Stadt stützt sich in diesem Punkt auf die Mitarbeit der Ludwig-Maximilians-Universität München. Einer der Informationsbausteine ist das „ZED-Forum Marienthal“. In diesem Kreis treffen sich regelmäßig Forscher der Uni und andere Experten mit den Ortsansässigen, klären auf und diskutieren. Dadurch fließen die Meinungen und Wünsche der Bewohner in das Projekt ein. Die Universität hatte unter anderem Haushalte zur Akzeptanz intelligenter Smart Home Systeme befragt, wie beispielsweise intelligente Heizungssteuerungsgeräte oder eine Bedienung über Tablet oder Smartphone. Ihr Fazit steht im Projekt-Zwischenbericht: „Es zeigt sich, dass die Zustimmung der Marienthaler sehr stark von ihren Vorerfahrungen, ihrer generellen Technikaffinität, aber auch von demografischen und sozioökonomischen Faktoren abhängt.“ Die Mitarbeiter mussten auf Fragen zum persönlichen Nutzwert, zu Kosten, Komfort und Störanfälligkeit eingehen.

ZED bemüht sich anhand des Modifizierens der drei Variablen Energieeffizienz, soziale Verträglichkeit und Nachhaltigkeit um eine Antwort auf die Frage, wie eine zukunftsfähige Quartiersversorgung aussehen sollte. Die Antwort ist den beiden fördernden Ministerien 16 Mio. Euro über fünf Jahre wert. Wie gesagt, anzustreben ist die thermische und elektrische Null-Emissions-Energieversorgung eines bestehenden Wohnquartiers. ZED gehört zu den sechs Leuchtturmprojekten des Programms „Solares Bauen/Energieeffiziente Stadt“. Im Prinzip entsteht ein Reallabor. Nur vermeiden in diesem Zusammenhang BMBF und BMWi den Begriff „Reallabor“, weil sie mit diesem Titel 20 weitere Quartiersanalysen beliehen haben, mit einer etwas anderen Schwerpunktsetzung, und deshalb zur Unterscheidung bei ZED nebst den fünf Geschwistern von „Leuchtturmprojekten“ sprechen.

Konzept mit Rücklauf-Wärmepumpen

Nach einem Ausscheidungsprozess blieben in Zwickau schließlich zwei Alternativen übrig, eine zentrale und eine dezentrale Variante. Die präsentieren die Projektanten den beiden Ministerien im Sommer 2021 in Berlin. Dann folgt die Evaluierung gegenüber dem Benchmark, der bestehenden Gasheizung. Die Projektbezeichnung zentral und dezentral trifft nicht genau den Kern. In beiden Fällen geht die Versorgung von einer Energiezentrale mit Energiering aus, nur dass in dem einen Konzept der Energiering alleine die Gebäude beliefert, er im anderen Konzept dagegen von dezentralen regenerativen Wärmeerzeugern unterstützt wird.

Zur zentralen Variante: Ausgangspunkt ist eine Technikzentrale mit Großwärmepumpen, über die der städtische Fernwärmerücklauf fließt. Das betrachtete Versorgungsgebiet in Marienthal hängt nicht am kommunalen Fernwärmenetz. Wie schon erwähnt, beheizt Erdgas dieses Quartier. Der lokale Energieversorger und Partner des Projekts, die Zwickauer Energieversorgung GmbH, schlug vor, den Rücklauf mit den Wärmepumpen auf Vorlauftemperatur für einen Nahwärmering Marienthal „hochzuspannen“. Damit verzichtet dieser Entwurf im Moment auf die direkte Nutzung von erneuerbarer Energie, wird aber später von dem angestrebten Ersatz der fossilen Wärmeversorger im städtischen Fernheizwerk durch eine nachhaltige Großfeuerung profitieren. Die Rücklauftemperatur im städtischen Netz beträgt um die 50 °C. Durch eine moderate Anhebung auf 70 bis 80 °C mindert sich der Strombedarf der Wärmepumpen.

Tabelle: Schon bei einem Speichervolumen von 30 Kubikmeter reduziert sich der Leistungsbedarf bei der Wärmepumpenlösung um 300 kW.
Quelle: TU Chemnitz, Professur für Technische Thermodynamik
Schon bei einem Speichervolumen von 30 m3 reduziert sich der Leistungsbedarf bei der Wärmepumpenlösung um 300 kW. Das optimale Preis/Leistungs-Verhältnis errechnete sich bei einem Speichervolumen von 200 m3.

Satelliten zur Unterstützung

Gedacht ist an drei Aggregate mit einer Leistung von insgesamt 1.600 kW. Diese drei Maschinen sollen einen zentralen Speicher beladen, der kurzzeitige Spitzen abdeckt. Dadurch sinken sowohl die Taktzahlen der Wärmepumpen (Lebensdauer) als auch die notwendige Leistung. Schon bei einem Speichervolumen von ca. 200 m3 reichen 1.200 kW aus, um den Wärmebedarf des Quartiers zu sichern. Das hat die TU Chemnitz, Professur für Technische Thermodynamik, errechnet. In einer Annuitätsrechnung variierte sie Leistung und Speichervolumen, um so mit Blick auf die Sozialverträglichkeit die günstigsten Wärmegestehungskosten zu ermitteln. Demnach sind eher kleinere als größere Speichervolumina in Kombination mit größeren Wärmepumpenleistungen wirtschaftlich. Diese Betrachtung berücksichtigt allerdings nicht die Versorgungssicherheit. Die TU rät deshalb zu doch etwas größeren Wärmespeichern.

Die zweite Variante eines Konzepts für die lokale Wärmewende baut auf einen hohen Anteil regenerativer Energiequellen, wie Photovoltaik, Geothermie und auch Abwärme, auf. Das Wohnareal wird deshalb in mehrere Versorgungsinseln aufgelöst, die je nach der Vor-Ort-Situation und den baulichen Gegebenheiten größere oder kleinere Speicher zur Beladung mit regenerativer Energie, zusätzlich zur Zentralversorgung, erhalten. Sven Leonhardt meint damit: „Wir können mit diesen dezentralen Nahwärmenetzen flexibel auch auf die Gebäudeorientierung reagieren. Für PV und Solarthermie müssen nun mal die Dachflächen der Sonne zugewandt sein. Solche Faktoren entscheiden mit über die Größe der Inseln und ihrer Speicher. Oder: Welche Leistung gibt das Geothermiefeld her und wie viele Haushalte kann ich wirtschaftlich anschließen? Die Dezentralität gestattet eine hohe Flexibilität.“

Über den Energiering, in den beispielsweise Holzhackschnitzelkessel einspeisen könnten, zirkuliert jedoch nicht permanent hochtemperiertes Heizungswasser. Das Verfahren geht gegen die Transportverluste vor, indem der zentrale Speicher nur auf Anforderung seiner dezentralen Satelliten nahe den einzelnen Wohnblocks exakt konditionierte Wärmepakete versendet – ähnlich einer Rohrpostanlage. Eventuell vorhandene Solarthermie auf dem Dach des Wohnblocks oder eine andere regenerative Energiequelle füllt die kleinen Einheiten, wenn aktuell von Seiten der zuständigen Wohnungsheizkreise keine Nachfrage besteht. Die dezentralen Zwischenlager kommunizieren darüber hinaus untereinander. Sie sind in der Lage, sich gegenseitig mit Wärme auszuhelfen. Sollte im Falle des Bedarfs eines Blocks die Kapazität seines zuständigen Satelliten nicht ausreichen, fordert er erst dann Nachschub von der Zentrale an.

Modifikationen inbegriffen

Das gesamte System ist mit einer intelligenten Regelung und Ventilstruktur ausgestattet, die gewährleistet, dass tatsächlich der „Kalorienschub“ trotz Ringleitung nur beim Besteller landet. Energieverbrauch und damit CO2-Emissionen und Kosten minimieren sich dadurch. Die Entwürfe lassen des Weiteren zu, sie zu kombinieren und die Dezentralität nur in jenen Teilen Marienthals zu realisieren, wo sie sich anbietet, um den anderen Teil an den zentralen Wärmepumpenkreis anzuschließen. Die Pläne gestatten Modifikationen, um auf die Bewertung der Wertigkeit der Ministerien reagieren zu können. Was hat in den Augen der Politik höchste Priorität, die Energieeffizienz, die soziale Verträglichkeit oder die Nachhaltigkeit?

Mit dem finanziellen Segen aus Berlin ist zunächst der Umbau von einem bis drei Blöcken in Marienthal geplant. Durch eine ähnliche Mieterstruktur, dieselbe Bauweise, Ausstattung und Ausrichtung können die energetisch sanierten Wohneinheiten gut mit der Ursprungsversion (Erdgasheizung) verglichen werden.

Von Bernd Genath
Düsseldorf
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