Den Grundstein für das Stadtquartier „Neue Weststadt“ im baden-württembergischen Esslingen am Neckar legten die beteiligten Partner 2016. 2022 soll alles fertig sein. Das Areal strebt unter anderem mit der Produktion von grünem Wasserstoff mit Strom von den eigenen PV-Dächern Klimaneutralität an. Wobei der Wasserstoff an die Industrie geht und nur die anfallende Abwärme im Quartier bleibt. Die grobe Rechnung: 20 l Wasser gleich 1 kg Wasserstoff gleich 8 bis 10 kWh (Ab-)Wärme.
Wasser zu Wärme
Neue Weststadt Esslingen geht auch einen neuen Versorgungsweg
Freitag, 25.02.2022
Auf einer rund zwölf Hektar großen, direkt am Neckar gelegenen Fläche entstehen im Endausbau über 600 Wohnungen, Büro- und Gewerbeflächen sowie ein Neubau der Hochschule Esslingen. Für die Finanzierung der Forschungsvorhaben stehen den Projektpartnern Fördermittel der Bundesministerien für Wirtschaft und Energie (BMWi) sowie Bildung und Forschung (BMBF) zur Verfügung. Die förderrelevanten Gesamtkosten belaufen sich auf rund 30,5 Mio. Euro, wobei rund 17,3 Mio. Euro aus Eigenmitteln kommen und 13,2 Mio. Euro von der öffentlichen Hand.
Berlin wählte Esslingen als eines von sechs Leuchtturmprojekten aus („Verbundvorhaben EnStadt:Es_West_P2G2P – Klimaneutrales Stadtquartier Neue Weststadt Esslingen“). In jedem der neuen Quartiere der sechs Modellkommunen Heide, Zwickau, Kaiserslautern, Oldenburg, Stuttgart und eben Esslingen liegt der strukturelle Schwerpunkt auf einem speziellen Thema. In Esslingen soll unter anderem die H2-Versorgung den Energiebedarf vom solaren Energieangebot abkoppeln und die Sommersonne via Elektrolyseur und Wasserstoffspeicher bis in den Winter hinein konservieren. Aber auch das Ankoppeln erprobt das Reallabor: Es vernetzt die Sektoren Wärme, Kälte, Strom und Mobilität.
Das Stadtentwicklungsprojekt in Form der Umwandlung des ehemaligen Güterbahnhofs und des angrenzenden früheren Sitzes des Nahrungsmittelherstellers Hengstenberg zu einer lebendigen Blockbebauung wächst heran. Die Wasserstoffspeicher liegen in ihrer Betonhülle im Boden, der Elektrolyseur steht betriebsbereit in der Energiezentrale. Besonderes Augenmerk gilt dem netzdienlichen Betrieb und der Bilanzkreisoptimierung durch den Bezug regenerativer Stromüberschüsse. Deren Nutzung trägt dazu bei, die zunehmenden Erzeugungs- und Lastspitzen des Stromsektors einander anzupassen.
Sozialwissenschaftliches und technisches Monitoring
Der erzeugte Wasserstoff fließt mehrheitlich in das bestehende Erdgasnetz, ebenfalls aber auch zu H2-Tankstellen für Brennstoffzellenfahrzeuge, um den Mobilitätssektor zu dekarbonisieren. Bei Strombedarf im Netz ist eine Rückverstromung möglich. Dadurch werden die PV-Stromüberschüsse netzstabilisierend verwertet. Die bei den Umwandlungsprozessen anfallende Abwärme speist die Energiezentrale in ein Nahwärmenetz ein.
Erfolg und Übertragbarkeit des Projektes hängen entscheidend von der Akzeptanz der verschiedenen Nutzungsgruppen ab. Deshalb begleitet ein sozialwissenschaftliches Monitoring den Transformationsprozess auf dem ehemaligen Güterbahnhofsgelände, um frühzeitig die Wünsche und die Zufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger zu erkennen und zu berücksichtigen. Mit Hilfe eines detaillierten Kommunikationskonzeptes soll außerdem umfassend und transparent über das Projekt und die eingesetzten neuen Technologien informiert werden. Ziel ist nicht nur, den Nachweis für die Funktionsfähigkeit und Alltagstauglichkeit im Hinblick auf ein zukünftiges, deutschlandweit anwendbares Energiesystem zu erbringen, sondern auch nachvollziehbar zu dokumentieren. Die Projektstruktur von lokalen und überregionalen Verbundpartnern und die beispielhafte Siedlungs- und Nutzungsstruktur der „Neuen Weststadt“ bietet die Chance, die Ergebnisse auf andere Städte und Kommunen zu übertragen.
Zur Versorgungsstruktur
Die Gebäude-Blöcke Béla und Citadis bedienen sich versorgungstechnisch dezentral aus jeweils einer separaten Technikzentrale, in der ein Biomethan-Blockheizkraftwerk den Großteil der Wärme erzeugt. Ein Gas-Spitzenlastkessel steht lediglich zur Deckung der Bedarfsspitzen bereit. Der Strom der Blockheizkraftwerke und der Photovoltaik-Dachanlagen auf diesen beiden Blöcken hat als Mieterstrom Priorität. Ein eventuelles Überangebot geht in einen Stromspeicher oder in das Stromnetz.
Für die Energieversorgung der Blöcke Desiro, E und des Neubaus der Hochschule Esslingen verwirklichen die Beteiligten eine zentrale Versorgungsinfrastruktur mit einer Energiezentrale als unterirdisches Bauwerk aufgrund der städtebaulichen Anforderungen. Hier bildet ein Elektrolyseur das Herzstück, der überschüssigen Strom aus den lokalen Photovoltaik-Anlagen der beiden Blöcke und des Hochschul-Neubaus sowie aus Erzeugungsanlagen, die von außerhalb grünen Strom über das öffentliche Stromnetz liefern, verwertet. Dem Ziel einer hohen erneuerbaren Eigenversorgung dient des Weiteren die Verwendung der beim Elektrolyseprozess anfallenden Abwärme als Nah-Heizwärme für die drei Objekte. Der Nutzungsgrad der H2-Erzeugung klettert so von rund 55 bis 60 Prozent auf bis zu 90 Prozent. Diese Infrastruktur deckt den Bedarf für Heizung und Brauchwarmwasser der Gebäude und erlaubt im Sommer über die Einbindung von Adsorptionskälte-Anlagen die Bereitstellung von Kühlenergie.
Grüner Wasserstoff
Die Anlagengröße des Elektrolyseurs beträgt 1 MWel. Bei rund 4.500 Vollbenutzungsstunden und einer systemdienlichen Betriebsweise erzeugt der Elektrolyseur rund 2.800 MWh grünen Wasserstoff pro Jahr (ca. 85 t/a). Rund 600 MWh/a nutzbare Abwärme stehen dann aus dem Elektrolyseprozess für die Versorgung von Block Desiro, E und der Hochschule zur Verfügung. Für die ganzjährige Vollversorgung mit Wärme sind in der Energiezentrale zusätzlich eine Wärmepumpe (200 kWth), ein bivalentes Blockheizkraftwerk (Erdgas: 300 kWth; H2: 138 kWth) und ein Gas-Spitzenlastkessel geplant.
Die effiziente Kopplung der Sektoren Wärme, Strom, Mobilität und Industrie erfolgt durch eine physische Vernetzung der Einzelkomponenten über ein digitales Informationsnetz und Energiemanagementsystem (EMS) als „Smart Grid“. Das prioritäre Ziel des EMS besteht darin, die lokale erneuerbare Eigenversorgung bei gleichzeitiger netzdienlicher Interaktion mit der vorgelagerten öffentlichen Stromversorgung zu erhöhen. Für die technischen und rechtlichen Herausforderungen bei der dezentralen Energievermarktung (Mieterstrom) will das Forschungsprojekt gezielt neue Lösungsansätze erarbeiten und breit anwendbare Vermarktungsoptionen für den zukünftigen Energiemarkt entwickeln.
Modell der Sektorenkopplung
Um den grünen Wasserstoff auch Nutzungspfaden außerhalb des Quartiers zuführen zu können, werden in der „Neuen Weststadt“ eine Einspeisestation in das Erdgasnetz, eine H2-Abfüllstation sowie eine H2-Tankstelle auf dem bisherigen Gelände der Stadtwerke Esslingen errichtet. In der ersten Ausbaustufe transportiert eine H2-Leitung den Wasserstoff aus der Energiezentrale zur Gasnetz-Einspeisestation und Abfüllstation. Der Großteil des Wasserstoffs (100 bis 400 kg/d) soll über die Abfüllstation in Trailer mit Röhrenbündelspeichern geladen und mit Lkw zu Kunden im Industrie- oder ÖPNV-Sektor transportiert werden.
Neben der H2-Tankstelle entsteht ein flächendeckendes Angebot an öffentlichen und halböffentlichen Ladestationen für Elektromobile. Eine komfortable Ladeinfrastruktur im Quartier für private Fahrzeuge in den Tiefgaragen der Wohnblöcke und die Einbindung eines Car-Sharing-Anbieters sollen eine möglichst breitenwirksame Akzeptanz und hohe Nutzungsintensität fördern. Durch eine Vernetzung der Lade- und Buchungstechnik der Fahrzeuge kann ein netzdienlicher Betrieb (bevorzugte Aufladung bei Überschüssen) realisiert werden. In einer weiteren Ausbaustufe ist auch eine Rückspeisung aus den Fahrzeugen in das Gebäude- bzw. Quartiersnetz möglich. Geeignete Dienstleistungsangebote sollen die Mobilität möglichst emissionsfrei gestalten und gleichzeitig die Anzahl der erforderlichen Fahrzeuge und Stellplätze auf ein Mindestmaß reduzieren, um einen ökologischen und ökonomischen Mehrwert im Rahmen der Quartiersentwicklung zu erzielen.
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